Helmut Digel präsentiert Ideen für WM-Reform
Professor Helmut Digel gehört zu den einflussreichsten Funktionären der internationalen Leichtathletik. Der Tübinger Sportsoziologe ist DLV-Ehrenpräsident und gehört seit 1995 zum 27-köpfigen Council des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF, wo er die Marketing-Kommission leitet. Der 69-Jährige plädiert für eine umfassende Reform der Leichtathletik-Weltmeisterschaft.
Die IAAF Leichtathletik-Weltmeisterschaften sind ohne Zweifel das wichtigste Leichtathletik-Ereignis in der Welt. Sie zeichnen sich durch einen einzigartigen Charakter aus. In neun Tagen in ein und derselben Stadt begegnen sich Athletinnen und Athleten aus 210 Ländern, um den besten Athleten beziehungsweise die beste Athletin in 47 Disziplinen zu ermitteln.Rund 2.000 Athletinnen und Athleten gehen dabei an den Start, mehr als 5.000 Betreuer und Offizielle sind anwesend. Das Ereignis wird in mehr als 200 Ländern übertragen und dabei werden außergewöhnlich hohe Einschaltquoten erzielt.
100-Meter-Finale vor halbleeren Rängen
Dieser positiven Bilanz stehen einige Entwicklungen entgegen, die schon seit mehreren Jahren zu beobachten sind und die darauf hindeuten, dass die Bindung der Zuschauer an die Weltmeisterschaften schwächer wird und dass es vor allem den Verantwortlichen der Leichtathletik nicht gelingt, die heranwachsenden jungen Generationen als Zuschauer zu binden.
Rückläufig sind dabei sowohl jene Zahlen, die sich auf die Zuschauer im Stadion beziehen, als auch die Zuschauerzahlen im Fernsehen. Blickt man zurück, so muss man feststellen, dass seit der Weltmeisterschaft in Helsinki (Finnland) 2005 über Osaka (Japan) 2007, Berlin 2009, Daegu (Südkorea) 2011 bis Moskau (Russland) 2013 bei keiner der Weltmeisterschaften das Stadion ausreichend gefüllt war. Teilweise fanden die Wettkämpfe vor halbleeren Rängen statt. Selbst der Höhepunkt der Weltmeisterschaften, das 100-Meter-Finale, war nicht ausreichender Anreiz für ein ausverkauftes Stadion.
Diskussionbeitrag für Reformen
Für die weitere Entwicklung der Weltmeisterschaften ist diese negative Tendenz äußerst gefährlich, deshalb ist es zwingend angebracht, dass die Verantwortlichen, das heißt der Präsident der IAAF gemeinsam mit seinem Council, möglichst schnell Lösungen finden, um den beobachteten Problemen entgegenzutreten.
Die folgenden Hinweise sollen hierzu einen Diskussionsbeitrag leisten. Sie sind als Vorschläge zu betrachten, bei deren Umsetzung zu erwarten ist, dass sich die Leichtathletik ihren Zuschauern zukünftig noch attraktiver präsentieren wird. Auf diese Weise könnte der Unterhaltungswert der Leichtathletik kurz- und mittelfristig gesichert werden. Damit würde auch der ökonomische Wert der Weltmeisterschaft erhalten bleiben und könnte auf Dauer für die Partner aus der Wirtschaft und aus den Massenmedien attraktiv und anschlussfähig sein. Folgende zehn Vorschläge erscheinen dabei diskussionswürdig.
EIN MEMORANDUM ZUR LEICHTATHLETIK-WELTMEISTERSCHAFT |
1. Kleinere Stadien als großer Pluspunkt |
Die Leichtathletik-Weltmeisterschaften sollten zukünftig nur noch in Stadien ausgetragen werden, deren Kapazität nicht mehr als 50.000 Zuschauer beträgt. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die Veranstaltung mit ihren Wettkämpfen ein größeres Stadion nicht füllen kann. Zu große Stadien haben den Nachteil, dass sie sowohl für die Athleten als auch für die Zuschauer keine angemessene Wettkampfatmosphäre ermöglichen. Die Qualität der Präsentation der Leistungen wird deshalb negativ beeinträchtigt.
Sollte für die Ausrichtung in einem Land lediglich ein größeres Stadion zur Verfügung stehen, so ist ein angemessener Rückbau auf eine Kapazität auf 40.000 bis 50.000 Zuschauer zwingend erforderlich. Dies bedeutet, dass für den Rückbau auch ausreichende finanzielle Mittel bereitgestellt werden, sodass das Gesamtbild und damit auch das Fernsehbild des rückgebauten Stadions attraktiv bleiben.
2. Den ersten Tag aufwerten |
Für das Gelingen der Gesamtveranstaltung ist der erste Tag der Weltmeisterschaften entscheidend. Wenn der erste Abend entsprechend attraktiv ist und eine große Aufmerksamkeit in den Medien hervorruft, dann wird positiv über die Sportart Leichtathletik berichtet. Im weiteren Verlauf wird man sich leichter tun, das Stadion zu füllen und mehr Zuschauer vor den Fernseher zu bekommen, als – wie es bislang üblich ist –, am ersten Tag negativ zu beginnen und dann tagelang gegen die negative Berichterstattung ankämpfen zu müssen.
Der attraktive erste Tag ist ein einfaches Marketinginstrument, das sich schon immer bewährt hat, das jedoch bei der WM bisher noch nie Beachtung gefunden hat. Wie bei so vielem im Leben ist der erste Eindruck entscheidend und es muss mit allen Mitteln verhindert werden, dass man einen schlechten ersten Eindruck abliefert. Im Augenblick ist der WM-Auftakt mit dem ersten Tag so schlecht, dass man selbst mit dem besten Willen keinen positiven ersten Eindruck bekommen kann und es somit unmöglich ist, dass der berühmte Funke auf die Menschen überspringen kann.
3. Nur sechs Abend-Sessions und ein „Straßenlauf-Wochenende“ |
Die 47 Entscheidungen der Leichtathletik-Weltmeisterschaften werden derzeit auf neun Wettkampftage mit unterschiedlich vielen Finals an den Abenden verteilt. Besser wäre es, das Programm auf lediglich sechs Abendveranstaltungen mit jeweils sieben Entscheidungen zu verkürzen, wie dies bei den europäischen Leichtathletik-Meisterschaften schon der Fall ist. Samstag bis Montag könnten dann Qualifikationen stattfinden, gegebenenfalls könnten an diesen Tagen auch alle Straßenwettbewerbe durchgeführt werden.
Zu überlegen wäre sogar, ob die 10.000 Meter nicht besser auf der Straße ausgetragen werden sollten. Das erste Wochenende könnte deshalb als „Road Running Wochenende“ deklariert werden, verbunden mit einem Jedermann-Rennen auf der offiziellen Strecke. Am Qualifikationstag Montag könnten die Schulklassen der jeweiligen Ausrichterstadt eingeladen werden. Durch die vorgeschalteten Qualifikationen würden bereits am ersten Wettkampftag viele Finalentscheidungen möglich. Während jeder Abendveranstaltung finden ausschließlich Finals und Halbfinals statt.
4. Kostenloser Eintritt an den Vormittagen |
Die Qualifikationsrunden an den Vormittagen sind nicht Teil des offiziellen WM-Wettkampfprogramms. Sie stehen zwar den Zuschauern zur Verfügung, es werden jedoch keine Eintrittskarten für die Vormittagsveranstaltungen verkauft. Außerdem wird nicht erwartet, dass diese im Fernsehen live übertragen werden. Ein internationales Fernsehsignal wird jedoch gesichert.
5. Spannungsbogen aufbauen |
Die Ausführung der Wettkämpfe in den Abendveranstaltungen sollte sich vermehrt an der Organisation der Finalveranstaltungen anderer Fachverbände, so beispielsweise an den Schwimm-Weltmeisterschaften, orientieren, d.h. die Vorbereitungszeiten der Athleten in der Arena sollten äußerst kurz gehalten werden. Unmittelbar nach den Finalläufen sollten die Siegerehrungen erfolgen. Man sollte sich bemühen, dass der Spannungsbogen für die gesamte Abendveranstaltung aufrechterhalten wird.
6. Zuschauer an die Wettkämpfe binden
Während des Wettkampfprogramms sollten deshalb die Hospitalityräume geschlossen sein, sodass das ständige Kommen und Gehen, wie es bislang üblich war, nicht mehr möglich ist. Vergleichbar mit der Spannung in anderen Sportarten werden die Zuschauer durch das Ereignis selbst fasziniert und verlassen deshalb ihre Plätze nicht mehr.
7. Die Entscheidungen besser präsentieren |
Ganz wesentlich zu verbessern wäre die Kommunikation mit dem Zuschauer über den jeweiligen Ablauf der Wettkämpfe. Der jeweilige Stand des Wettkampfes ist den Zuschauern auf großen Anzeigetafeln zu vermitteln. Jeder Wettkampf benötigt hierzu seine eigene Anzeigetafel. Die Event-Präsentation ist ganz wesentlich zu professionalisieren. Aufgrund der elektronischen Überwachung der Würfe und Sprünge könnte auf einen großen Teil der Kampfrichter verzichtet werden.
Wichtig ist auch eine professionelle Lautsprecheranlage auf hohem Niveau. Die Führung der Zuschauer im Stadion durch den Sprecher ist ein entscheidender Faktor, um dorthin zu schauen, wo gerade die wirklich entscheidenden Dinge passieren. Wenn der Sprecher schlecht oder gar nicht zu verstehen ist, so ist es für den normalen Zuschauer kaum möglich, das große Stadion so zu überblicken, dass er immer weiß, wann und wo gerade etwas Spannendes passiert.
8. Rituale überdenken |
Auch alte Rituale müssen überdacht werden. So unter anderem der Transport der Wettkampfkleidung der Athleten in Waschkörben entlang der Zielgeraden. Dieses Ritual kann in der heutigen Zeit nur belächelt werden!
9. Mobiles Podium |
Die Siegerehrungen sollten vorrangig von ehemaligen Athleten durchgeführt werden, die mit ihrer Anwesenheit die Weltmeisterschaften aufwerten. Darüber hinaus sollten herausragende Vertreter der Sponsorenschaft die Möglichkeit haben, Siegerehrungen durchzuführen. Das Podium für die Siegerehrungen sollte sich den verschiedenen Wettkampfarten anpassen. Es sollte somit mobil sein.
10. Stadion-Besuch zum Erlebnis machen |
Die Präsentation des Events ist für den Zuschauer der entscheidende Faktor, ob der Funke überspringt oder nicht. Die angebotenen Wettkämpfe müssen Entertainment auf höchstem Niveau sein. Mit der richtigen Musik und mit weiteren kleinen Show-Elementen muss dafür gesorgt werden, dass im Stadion immer etwas geboten wird, dass immer eine gute Stimmung unter den Zuschauern herrscht und dass für die Zuschauer keine Langeweile aufkommt. Dies ist ein entscheidender Faktor, um junge Menschen für die Leichtathletik zu begeistern.
Ein Stadion-Besuch muss ein besonderes Erlebnis sein. Dazu zählt auch, dass man dem meist nicht aus Experten bestehenden Stadion-Publikum hilfreich erläutert, welche Athleten in einem Wettbewerb die großen Stars sind, welche Duelle zu erwarten sind, auf die sich die Zuschauer konzentrieren sollen und wer gerade für eine große Überraschung gesorgt hat beziehungsweise wer im Laufe des Wettkampfes für eine Überraschung sorgen kann.
11. Weitere Ideen und Diskussionen ermöglichen |
Diese Vorschläge sind vermutlich nicht ausreichend, um die notwendige Modernisierung der Weltmeisterschaft durchzuführen. Sie sollten einen ersten Beitrag zu einer weiteren Diskussion darstellen. Wünschenswert wäre es, wenn Athleten, Trainer, Manager, Medienvertreter und IAAF-Funktionäre gemeinsam möglichst schnell ein neues Format für die Weltmeisterschaft finden, das den modernen Unterhaltungsinteressen entspricht und dass auch den Ansprüchen der Athleten genügt, die diese an ihr wichtigstes Sportereignis richten.
Quelle: Leichtathletik - Ihre Fachzeitschrift
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