Herbert Czingon - „Müssen strategisch denken“
Die Deutschen Meisterschaften in Braunschweig (17./18. Juli) stehen vor der Tür, gefolgt von den Europameisterschaften in Barcelona (Spanien; 27. Juli bis 1. August). Im Interview macht Herbert Czingon, DLV-Cheftrainer Field, für den Bereich der technischen Disziplinen nicht nur eine Bestandsaufnahme mit dem Blick voraus, sondern bezieht auch zur Verletzungsdichte im Jahr nach der Heim-WM Stellung.
Herr Czingon, Ihr Cheftrainer-Kollege Rüdiger Harksen hat für seinen Bereich mit Blick auf die EM bereits den Status „medaillenfähig“ gemeldet. Wie sieht Ihre Statusmeldung aus?Herbert Czingon:
Dem kann ich mich anschließen. Es gibt auch in diesem Jahr bei der EM genügend Möglichkeiten in den technischen Disziplinen und auch im Mehrkampf, Medaillen zu gewinnen, auch wenn die Situation insgesamt nicht ganz so rosig ist, wie ich sie mir im letzten Jahr ausgemalt habe.
Woran lässt sich das festmachen?
Herbert Czingon:
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Aufeinanderfolge der drei internationalen Höhepunkte von 2007 bis 2009, WM in Osaka, Olympia in Peking und on top die WM im eigenen Land, die Athleten stark gefordert hat. Das war schon ein sehr sehr starker Stress, der in diesem Jahr Tribut fordert. Wir haben an verschiedenen Stellen größere Probleme, die körperlichen Folgen in Form von Verletzungen auszukurieren, als wir das erwartet hatten. Ein typisches Beispiel ist Raúl Spank im Hochsprung oder vielleicht auch ein Sebastian Bayer im Weitsprung. Dort konnten wir im letzten Jahr sehr, sehr gute Leistungen vermerken, aber die Kontinuität in dieses Jahr zu holen, ist viel schwieriger als gedacht. Das hängt natürlich mit der Aufeinanderfolge von internationalen Höhepunkten zusammen. Dort ist sehr stark und sehr hoch belastet worden. Das scheint in dem ein oder anderen Fall dazu zu führen, dass kurz vor der EM nicht alles so rund läuft, wie wir uns das erwarten.
Ist das ein Tribut, den man auch der Heim-WM in Berlin zollen muss?
Herbert Czingon:
Das Jahr nach der Heim-WM ist auf jeden Fall kein einfaches. Wir dürfen die WM im eigenen Land aber nicht schlecht reden. Die WM in Berlin hat auch neue Kräfte freigesetzt. Es hat Leute nach oben gebracht. In den Bestenlisten sind Leute mit vorne, bei denen man es nicht unbedingt vorhergesehen hat, wie zum Beispiel Jennifer Oeser im Siebenkampf, die im letzten Jahr richtig brilliert hat. So gesehen gab es Auswirkungen in die eine und in die andere Richtung. So ist auch der ein oder andere, bei dem es im letzten Jahr nicht so gut geklappt hat, mit der Nase darauf gestoßen worden, dass er berufliche Gründe in den Vordergrund rückt, um dort in der persönlichen Lebensplanung nicht den Anschluss zu verlieren.
Welche Einschränkungen bringen Beruf und Studium bei den Athleten im Jahr nach der WM mit sich?
Herbert Czingon:
Es ist ein Punkt, dass gerade nach diesen drei Powerjahren die beruflichen Aspekte und die Ausbildung von vielen Athleten stärker berücksichtigt werden. Hier ist das eklatanteste Beispiel vielleicht Lilli Schwarzkopf, die uns sehr frühzeitig darauf angesprochen hat, dass sie ein Zwischenjahr einlegen möchte und das ohne Startverpflichtung für den internationalen Wettkampf. Wir haben dem nach längeren internen Diskussionen auch zugestimmt. Wir denken, wenn wir uns den hohen Verletztenstand anschauen, wollen wir es unterstützen, wenn eine Athletin jetzt ihr Studium abschließen will, um in 2011 und 2012 wieder voll anzugreifen. Vielleicht liegt darin auch eine Lehre für andere Athleten und unseren Umgang.
Was kann man daraus lernen?
Herbert Czingon:
Wir dürfen nicht jeden Höhepunkt mit aller Macht ansteuern wollen. Der Verschleiß, den wir produzieren, und die Defizite in Studium und Beruf werden irgendwann so groß, dass der Athlet sich diesen Freiraum erzwungenermaßen nehmen muss. Bei Lilli Schwarzkopf war es geplant und von ihr so gewollt. Bei anderen sind die Verletzungsfolgen jetzt bedauerlich und schwer zu ertragen, wenn man eigentlich doch zur EM wollte.
Wie kann man diese Probleme, wie sie nicht zuletzt durch eine Verletztenmisere wie etwa im Zehnkampf auftreten, in den Griff bekommen? Herbert Czingon:
Es gibt intern schon die Papiere, in denen die Probleme thematisiert werden, und die Konzepte, in denen wir sagen: Wir müssen künftig strategisch und nicht nur von Jahr zu Jahr denken. Wenn wir von den Athleten und Trainern eine Mehrjahresplanung erwarten, dann muss sich diese nicht nur auf sportliche Dinge beziehen. Diese kann nicht über zehn oder zwölf Jahre hinweg immer einen sportlichen Höhepunkt ausweisen, sondern es muss, wenn man so will, Sabbatjahre geben, wo man ein Stück weit zurückschraubt. Man muss natürlich gut überlegen, was das für die Förderung in dem Zeitraum bedeutet. Es muss sauber mit allen Beteiligten abgeklärt sein. Auf dem Weg können wir aber Probleme und Enttäuschungen besser vermeiden als bisher.
Den Blick zu den in einer Woche anstehenden Deutschen Meisterschaften in Braunschweig und zur EM gerichtet, sind in Ihrem Bereich momentan rund 25 EM-Starter fix. Welchen Schwung erwarten Sie sich noch bei der DM?
Herbert Czingon:
Ich bin gespannt auf diese Meisterschaft. Ich glaube, dass es sehr gute Leistungen geben wird. Ich erwarte Überraschungen, Nachzügler und möglicherweise interessante Umschichtungen. Eine Deutsche Meisterschaft hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Man muss sehen, dass sie dieses Jahr als absolut entscheidender Wettkampf vor der EM dient. Somit hat die Veranstaltung das Potenzial, noch einmal einen deutlichen Leistungsschub zu ermöglichen. Ich sehe noch Reserven, zum Bespiel im Weitsprung der Männer und Frauen. Vielleicht gibt es auch im Hochsprung noch eine Bewegung nach oben. In den Disziplinen, in denen es mehr als drei Normerfüller gibt, vor allem im Stabhochsprung, wird es sehr spannende Wettkämpfe geben. Woanders sind die Nominierungsfragen schon geklärt. Es gibt Athleten, die die Norm noch gar nicht oder erst einmal erfüllt haben, und hoffen, mit einer absolut überzeugenden Leistung auf den Zug aufspringen zu können.
Die Deutsche Meisterschaft ist diesmal unmittelbar vor dem internationalen Höhepunkt. Welche Auswirkungen hat das?
Herbert Czingon:
Für uns ist es eher ungewohnt, gerade in dem Bereich, der die größten Anteile am Medaillenerfolg hatte, nämlich im Wurf. Dort haben wir eine funktionierende Trainingsstrategie, die darauf ansetzt, dass der Ausscheidungshöhepunkt sechs Wochen vorher sein sollte, um dann mit einem letzten Trainingsabschnitt, dessen Inhalte in einer vielfach positiv erprobten Form vorliegen, den Höhepunkt mit einer hohen Aussicht auf einen Spitzenerfolg und auf eine nochmalige Steigerung anzusteuern. Den Werfern ist der späte Zeitpunkt nur unter der Voraussetzung angenehm, dass die Ausscheidung intern eigentlich schon vorher stattgefunden hat, so dass es keinen Qualifikationsstress mehr gibt. Wenn man keine Angst zu haben braucht, kann man mit diesem kurzen Zeitpunkt umgehen. Andererseits ist es den Sprintern und manchen Springern lieber, den Qualifikationshöhepunkt nahe am internationalen Ereignis zu haben, um die traditionelle Leistungsspitze einer DM leichter mitnehmen zu können. Wir sind momentan nicht sicher, was die bessere Variante ist. Vielleicht müssen wir in Zukunft auch die Nominierungsrichtlinien noch stärker differenzieren, um dem Rechnung zu tragen.
Ihre Athleten aus den technischen Disziplinen waren bei der WM in Berlin in hohem Maße die Medaillenlieferanten. Bedeutet das für die EM nun einen erhöhten Erwartungsdruck?
Herbert Czingon:
Einen Erwartungsdruck sehe ich darin nicht, sondern ganz im Gegenteil. Die Athleten freuen sich wieder darauf, dass sie ihre Leistungsstärke nachweisen können und das in der ein oder anderen Disziplin unter etwas leichteren Bedingungen, weil ein paar Überseeathleten nicht zur Konkurrenz zählen, so dass man sich noch besser in Szene setzen kann.
Wann wären Sie bei der EM in Barcelona zufrieden?
Herbert Czingon:
Zufrieden wäre ich, wenn es uns gelingt, neben unseren langjährig bewährten Leistungsträgern in den traditionell starken Disziplinen auch einige der jüngeren Athletinnen und Athleten zu einem positiven Abschneiden zu bringen. Gerade in Disziplinen, die ein bisschen abgesackt waren. Ich würde mich zum Beispiel sehr freuen, wenn Katja Demut im Dreisprung ein gutes Ergebnis erzielen könnte. Wir haben im Männer-Dreisprung den Kontakt zur internationalen und auch europäischen Spitze absolut verloren. Dort müssen wir neu aufbauen. Dann ist es immer gut, wenn man jemanden hat, der in dem Bereich den anderen zeigen kann, dass es möglich ist, auch dort aufzuschließen. Auch in Disziplinen, die im letzten Jahr unter den Erwartungen geblieben sind, wie zum Beispiel im Weitsprung, erhoffe ich mir, dass die Athletinnen und Athleten in der Lage sind, nachzuweisen, dass sie zur Spitze gehören.
Mehr als zehn Athletinnen und Athleten aus Ihrem Bereich gehören derzeit zu den besten Fünf in Europa. Wie werten Sie diese Vorzeichen für die EM?
Herbert Czingon:
Die Vorzeichen sind nicht schlecht. Allerdings bietet die Bestenliste immer ein verzerrtes Bild. Das Abschneiden bei Top-Wettkämpfen ist wieder etwas anderes. Bei einer internationalen Meisterschaft ist die Vorleistung erst einmal gar nichts wert. Man muss durch eine unangenehme Qualifikation. Erst danach werden die Karten im Finale immer neu gemischt. Dort ist dann eine hohe Leistungsfähigkeit natürlich von Vorteil. Das alleine ist aber nicht ausreichend, man muss sich auch in dieser Wettkampfsituation dann durchsetzen. In der Kombination von hoher Leistungsstärke und Durchsetzungsfähigkeit sehe ich die eigentliche Herausforderung.
Vor vier Jahren bei der EM in Göteborg haben die deutschen Athleten in den technischen Disziplinen sechs Medaillen geholt. Ist das zunächst der Gradmesser für Barcelona?
Herbert Czingon:
Ich würde mich schon sehr freuen, wenn es diesmal mehr wären. Ich möchte mich aber vor der DM in Braunschweig noch nicht abschließend dazu äußern oder mich festlegen. Aber es wäre ein Maßstab, von dem an die positive Bewertung beginnen würde.DM in Braunschweig
17./18. Juli 2010