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IAT feilt an Weltmeister-Formel für David Storl

Sind Rekorde berechenbar? Ja. Am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig existiert eine Formel, die vorhersagen kann, welche Bestweite für einen Werfer theoretisch möglich ist. Aber bei so einem Versuch muss alles perfekt sein. Das Ziel der Forscher: die Optimierung von Technik und das Trimmen der Zubringerwerte. Ein Lied davon singen kann David Storl. Der zweifache Kugelstoß-Weltmeister und Schützling von Sven Lang ist einer von vielen Top-Athleten des DLV, der mit wissenschaftlicher Beratung trainiert.
Pamela Ruprecht

Über den Leipziger Forschungsgebäuden in der Marschnerstraße liegt ein Schleier der Vergangenheit. Das IAT wurde 1992 aus dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) der ehemaligen DDR gegründet. Ein Kapitel der Geschichte, mit dem der junge Wissenschaftler Wilko Schaa wenig zu tun hat. Der 32-Jährige entwickelt eine spezielle Kugel mit einem Messsensor in der Mitte, der die Beschleunigung des Wurfgerätes erfassen soll.

Teil des aktuellen wissenschaftlichen Projektes "Analyse und Beeinflussung der Beschleunigung der Wurfgeräte unter besonderer Berücksichtigung des Spannungsaufbaus", das eingepasst in den Olympiazyklus von 2013 bis 2017 läuft. Für das Thema gibt es gute Gründe: „Die Top-Leistungen in der Welt sind dadurch gekennzeichnet, dass mit höheren Eingangsgeschwindigkeiten geworfen wird“, erklärt Projektleiter Dr. Frank Lehmann. Das heißt für die drei Wurfdisziplinen Speer, Kugel und Diskus: „Die laufen schneller an, die gleiten schneller an, die drehen schneller an.“

Die Beschleunigung macht's

Um solche technischen Trends der internationalen Konkurrenz im Blick zu haben und darauf mit eigenen Forschungsanstrengungen und der Entwicklung geeigneter Trainingsmethodik reagieren zu können, führt das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft per Video regelmäßig sogenannte Weltstandsanalysen durch. Die brandneuen Forschungsfragen lauten: Welche Konsequenzen hat das höhere Tempo für den Spannungsaufbau vor dem Abwurf und welche physischen Voraussetzungen sind dafür notwendig?

Die Forscher suchen in Kooperation mit den Bundestrainern nach den Körperbewegungen, die eine hohe Beschleunigung der Wurfgeräte erzeugen. Denn: „Entscheidend für die Wurfweite ist die Abfluggeschwindigkeit und die Grundlage dafür ist die Gerätebeschleunigung“, sortiert Lehmann. Für Mathefreaks daran erkennbar, dass die Abfluggeschwindigkeit als quadratischer Term in die Wurfparabel - eine komplizierte, physikalische Formel, mit der zentimetergenau die Wurfweite berechnet werden kann – eingeht und somit den größten Leistungsausschlag bewirkt. 

Sven Lang in engem Kontakt mit IAT-Experten

In das neue Projekt integriert ist auch Sven Lang. Der Kugelstoß-Bundestrainer der Männer pflegt eine besonders intensive Zusammenarbeit mit dem IAT. Sein Wohnort Markkleeberg ist einen Katzensprung von Leipzig entfernt. „Das vereinfacht einiges“, so Lang. Außerdem hat er zum Projektleiter einen guten Draht. Als Lang an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport (DHfK) die Studienbank drückte, war Lehmann sein Dozent. Insgesamt schreibt Lang dem IAT einen großen Einfluss auf seine Arbeit als Trainer zu: „Wir haben zusammen ein Trainingssystem entwickelt, das neu war.“ Dazu zählen Schnelligkeitsorientierung und Trainieren mit leichten Geräten.

Der Coach der beiden Europameister David Storl (noch LAC Erdgas Chemnitz) und Christina Schwanitz (LV 90 Erzgebirge) nimmt mit seinen Athleten in hohem Umfang an den Experimenten mit der Sensor-Kugel teil. Lang setzt auf Messplatztraining, die Kernkompetenz des IAT. Alle vier bis sechs Wochen werden dort Einheiten absolviert. Er will eine regelmäßige Überprüfung der technischen Fähigkeiten. „Viele schmoren im eigenen Saft. Aber viele Augen sehen mehr als zwei und dazu ist es wissenschaftlich fundiert“, sagt Lang.

Die Messinstrumente machen sichtbar, was das bloße Auge nicht sieht: Dynamik. Das Bein hinterlässt am Boden einen Kraftabdruck. „Bekommt man gesagt, mit dem linken Bein passiert ja gar nichts, kann das sehr schonungslos sein“, so der Bundestrainer. „Auch wenn es nicht immer schön ist, wenn dort die nackte Wahrheit aufgedeckt wird“, wissen die Athleten den Beitrag zu ihrer Leistungsentwicklung, zur idealen Technikfindung, zu schätzen. Storl wird schon seit 2007, seitdem er U18-Athlet ist, vom IAT betreut.

Messplatz im Mittelpunkt

Innerhalb einer Minute stehen Wissenschaftler, Trainer und Athlet Informationen zur Beschreibung der Qualität des Versuches zur Verfügung. Die Visualisierung hilft dem Athleten. „Er sieht sich selbst im Video und die objektiven Messwerte dazu“, sagt Wilko Schaa und nennt damit einen großen Vorteil. Die neuen Beschleunigungsdaten sind eine weitere Information, die mit Scharfstellung der Kugel eingelesen werden. Beschleunigungsanstieg beim Abwurf, Beschleunigungsmaximum, mittlere Beschleunigung und Beschleunigungsdauer sind die entscheidenden, mechanischen Parameter.

Dann sucht Schaa, zuständig für das Kugelstoßen am Institut, nach Bewegungen, die diese Parameter ansteuern. Der Doktorand begleitet das Team von Bundestrainer Lang und seinen Schützlingen seit fünf Jahren, fährt auch mit auf Wettkämpfe und in Trainingslager. Das intensive Technikinteresse des wissenschaftlichen Mitarbeiters rührt von eigens bestrittenen Kugel-Wettkämpfen. „Der Wurfbereich war immer mein Ding, wenn auch mehr leidenschaftlich als gut“, sagt Schaa. Dazu selbst Trainer gewesen, kennt er nicht nur die theoretische Sichtweise.

Diskretion im Fall Storl

Trainingswissenschaftlich wurde David Storl 2009 folgendermaßen beschrieben: „Überdurchschnittliche Schnelligkeitsvoraussetzungen, leichte Defizite in der Stemmbeinaktivität, folglich teils flacher Abflugwinkel und verringerte Unterstützung der Ausstoßbewegung aus den Beinen.“ Das hat damals die Messung der Bodenreaktionskräfte gezeigt. Durch gezieltes Training konnte die Stemmbeinarbeit verbessert, die Beseitigung des Defizits nachgewiesen werden. Heute ist die Beinarbeit, besonders die Stemmbeinarbeit, eine absolute Stärke des Olympia-Zweiten. 

Wie der Weltmeister im Jahr 2014 beschrieben wird und woran derzeit konkret gearbeitet wird, verrät der junge Wissenschaftler nicht. Da Storl mittlerweile ein Top-Athlet mit eigener Handschrift ist, gibt es keine großen Baustellen mehr. „Es sind kleinere Details, die leistungsentscheidend werden“, erklärt Schaa. „Wir haben durchaus ein gutes Bild davon, was ihn ausmacht und was er noch ändern muss, damit es noch weiter gehen kann.“

Lang macht dagegen kein Geheimnis aus den Trainingsschwerpunkten. Es gehe immer um die Verbesserung der Beschleunigung, die Erhöhung der Abfluggeschwindigkeit. Mit dem Ziel: „Sein Niveau zu erhöhen und doch mal die 22 vorm Komma stehen zu haben, woran er diese Saison mehrfach nur knapp scheiterte.“ Im Mittelpunkt steht die Vorbereitung auf die Weltmeisterschaften in Peking (China). Ob es eine Hallensaison geben wird, ist nach der Knieoperation noch nicht entschieden. Die Reha läuft am Olympiastützpunkt Berlin, nicht in Leipzig.

Kniffliges Kugelgelenk

Der nächsten Wurfgruppe, den Speerkünstlern, geht Dr. Lehmann näher auf die Spur. „Wie müssen einzelne Körperteile für die größtmögliche Beschleunigung gegeneinander verwrungen werden?“, formuliert der Leiter des Projekts die zentrale Frage. In der Disziplin spielt die Schulter die entscheidende Rolle. Aber extrem schwierig: Sie ist ein Kugelgelenk mit verschiedensten Bewegungsdimensionen. Wo die Olympiastützpunkte abwinken, will sich das IAT der problematischen Modellierung stellen.

Für einen langen Beschleunigungsweg braucht man eine gute Dehnfähigkeit, für eine hohe Beschleunigungsleistung viel Kraft. Aber: Gymnastik und Krafttraining beißen sich. „Viel Dehnung geht auf Kosten der Kraft, viel Kraft auf Kosten der Dehnung“, weiß Lehmann. Daher soll das optimale Verhältnis gefunden werden. Natürlich in enger Zusammenarbeit mit den Bundestrainern („unser Markenzeichen“ O-Ton Lehmann) Boris Obergföll und Maria Ritschel, mit denen auch Trainingsinhalte abgestimmt und an Heimtrainer weitergetragen werden.

Prüfung des alten DDR-Wissens

Wurfforschung hat am Standort Leipzig eine lange Tradition, die bereits Ende der 60er Jahre begann. Es gibt deshalb eine sehr gut funktionierende Methodik zum Jahres- und Mehrjahresaufbau. Alle Werfer haben zu den vergangenen Jahreshöhepunkten Höchstleistungen gebracht. Darauf kann sich die trainingswissenschaftliche Beratung stützen. Doch: Zu diesem Erfahrungsschatz zählen auch fragliche Weltrekorde aus den 80er Jahren. Erzielt unter dopingverdächtigen Bedingungen der DDR. Die beiden Diskusbestmarken sind in enger Betreuung des FKS entstanden.

Umso wichtiger ist ein reflektierter Umgang mit dem schweren, aber auch profitablen Erbe. Alte Fragestellungen zu den Leistungen vor 1990 kommen unter die Lupe. „Wir prüfen, was davon inhaltlich noch relevant und wertvoll ist und was nicht mehr vergleichbar ist, weil es unter anderen Bedingungen zustande gekommen ist, weil es vielleicht dopingbelastet ist“, lautet die Leitlinie von Lehmann für das gesammelte Wissen. Eine personelle Kontinuität im Wurf gibt es nicht. Der Projektleiter ist seit 2001 am IAT, die beiden jüngeren Mitarbeiter seit 2009.

Was sich aus Lehmanns Sicht seit der Wende noch verändert hat: Anders als früher kommen die Sportler zu Leistungsdiagnostik und Trainingseinheiten freiwillig und nicht mehr per staatlicher Verordnung. „Wir müssen wie auf dem Markt üblich gute Angebote machen.“ Oft zu Gast: Diskus-Olympiasieger Robert Harting (SCC Berlin) und seine Disziplinkollegen sowie viele der Mehrkämpfer, darunter Rico Freimuth (SV Halle), Kai Kazmirek (LG Rhein-Wied) und Carolin Schäfer (LG Eintracht Frankfurt). Akribisch den Weg zur Höchstleistung aufzeigen, ist die Visitenkarte des IAT.

Geringe Geheimhaltungsstufe

„Wir entwickeln hier ein Know-How, was letztendlich neben vielen anderen Faktoren dazu beiträgt, dass die Athleten konkurrenzfähig sind.“ Die zahlreichen Werfer-Medaillen der letzten Jahre belegen das. Das Wissen der Forscher ist begehrt. Lehmann ist im November zu einem Kongress in Finnland eingeladen, die dritte Anfrage schon in dieser Saison. Es hat sich rumgesprochen, dass man in Deutschland im Wurf eine ganze Menge Erkenntnisse gewonnen hat. Dennoch gilt: „Wir haben eine kleine Geheimhaltungsstufe, um Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Nationen zu erreichen.“

Noch überlegt Lehmann also, was er preisgibt. Er will der Konkurrenz ungern mitteilen, was sie zu tun hat, um den Leistungsrückstand zu verkürzen. „Da ist natürlich die Frage, was sage ich dort?“ Man erwartet viel von ihm, ein paar Ergebnisse muss er präsentieren. Für die Zukunft gibt der Wissenschaftler zu bedenken: Langsam nehme der Austausch Formen an, die vielleicht nicht unbedingt dem ureigenen Interesse entsprächen. Es bestehe Klärungsbedarf mit den Auftraggebern. Indessen fragen weitere Disziplinen des DLV in Leipzig an.

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