Idriss Gonschinska - "Ich glaube an Teamwork"
Neues Jahr, neue Ziele, neue Herausforderungen: Idriss Gonschinska, Cheftrainer des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV), startet mit der Nationalmannschaft in eine Saison voller internationaler Höhepunkte. Im Interview erklärt er, warum 2013 neben der Vorbereitung der Weltmeisterschaften in Moskau (Russland) die U23-Athleten verstärkt im Fokus stehen werden und erläutert, wie der DLV die Kompetenzen seiner Trainer und Berater noch besser nutzen will.
Herr Gonschinska, nach einer Saison mit EM und Olympischen Spielen bleibt im Jahr 2013 kaum Zeit zum Luft holen. Mit welcher Motivation stellen Sie sich den nächsten Herausforderungen?Idriss Gonschinska:
Die Motivation erwächst aus den tollen Ergebnissen der Athleten der DLV-Nationalmannschaft im vergangenen Olympiazyklus und speziell der Leistungen, die wir in Helsinki und London gesehen haben. Es ist unglaublich, welche Emotionen in einer Sportart wie der Leichtathletik erzeugt werden können, welche Dynamik gegeben ist, wenn das Stadion voll ist.
Neben den Leistungen unserer Athleten, herausgehoben der Olympiasieg von Robert Harting, haben mich in London die beiden britischen Athleten Mo Farah und Jessica Ennis sehr beeindruckt, die vor heimischem Publikum als Favoriten antraten und sich eindrucksvoll behaupten konnten. Die Atmosphäre im Stadion war phantastisch – als zum Beispiel Jessica Ennis die Ziellinie nach dem 800-Meter-Lauf überquerte oder Mo Farah das zweite Gold gewann und das ganze Stadion vibrierte.
Gemeinsam mit Sportdirektor Thomas Kurschilgen haben Sie verkündet, dass den Leistungsträgern der vergangenen Jahre in der kommenden Saison der Raum für Regeneration gegeben werden soll. Wie sehen da die Erwartungen für die WM in Moskau aus, den Höhepunkt des Jahres 2013?
Idriss Gonschinska:
Das muss man individuell differenziert betrachten. Wir wollen auch 2013 erfolgreich sein, aber wir müssen die Möglichkeiten und die Notwendigkeiten adäquat bezogen auf jeden einzelnen Athleten bewerten. Spitzenathleten, die im vergangenen Jahr ihre Träume und Ziele nicht verwirklichen konnten, sind natürlich so motiviert, dass sie sehr zielgerichtet auf die WM hinarbeiten. Andere Athleten benötigen nach den sehr intensiven Jahren des abgelaufenen Olympiazykluses, eingeleitet durch die Heim-WM 2009 in Berlin, eine verlängerte Regenerationsphase und verzichten zum Beispiel auf Starts in der Hallensaison.
2013 ist ein Weltmeisterschaftsjahr und gleichzeitig das erste Vorbereitungsjahr auf die Olympischen Spiele 2016. Ein Ergebnis von acht Medaillen bei einer internationalen Meisterschaft wie in London stellt für den Deutschen Leichtathletik-Verband ein außergewöhnliches Ergebnis dar. Daher können wir dies für die WM in Moskau nicht als Maßstab heranziehen.
Welche Hoffnungen setzen Sie in den Nachwuchs?
Idriss Gonschinska:
In einer Vielzahl von Disziplinen ist für die Perspektive der Athleten vor allem der Altersbereich zwischen 20 und 23 Jahren entscheidend. Dieser Altersbereich spielt für uns eine entscheidende Rolle. In der Regel gibt es dort keine lineare Leistungsentwicklung, sondern es gilt, im Aktivenbereich Fuß zu fassen, Parameter einer dualen Karriere erfolgreich miteinander zu koordinieren. Dann erfolgt ein Leistungssprung – oder nicht.
Wir haben 60 Athleten im Junior-Elite-Team formiert. Sie bilden den Kern unserer Mannschaft für die U23-EM. Unser Ziel ist es, dass aus diesem Bereich zwölf bis 15, vielleicht 18 Athleten das erforderliche Leistungsniveau für eine erfolgreiche Teilnahme an den Olympischen Spielen 2016 entwickeln. Das ist eine ambitionierte Zielstellung für diesen Athletenpool, da die A-Nationalmannschaft mit einem Altersdurchschnitt von 26 Jahren auch bis 2016 über hohes Entwicklungspotential verfügt.
Leichtathleten müssen jedes Jahr aufs Neue den Kampf um die Normen zu den internationalen Höhepunkten aufnehmen. Wie stellen Sie sicher, dass für alle Athleten über alle Disziplinen hinweg vergleichbare Richtwerte gelten?
Idriss Gonschinska:
Unser Anspruch ist es vergleichbare Kriterien zur Festlegung der DLV-Normen für alle Disziplinen heranzuziehen. Die einzigen Ausnahmen bilden der Marathon und der Wettbewerb im 50 Kilometer Gehen der Männer: Die Athleten können hier in der Regel nur ein, maximal zwei Qualifikationsrennen pro Jahr realisieren, müssen sich sehr langfristig vorbereiten und dann zum Teil schwierige sowie nicht vergleichbare Witterungsbedingungen bewältigen. Deswegen haben wir den Nominierungszeitraum verändert und den Maßstab etwas geöffnet. Ansonsten orientieren wir uns an der bereinigten Weltbestenliste zum Nominierungszeitraum im Mittelwert der letzten Jahre und der Analyse der internationalen Meisterschaften. Als Nominierungsgrundlage wird die erweiterte Finalchance definiert.
Neben diesen Überlegungen sind wir jedoch auch an die jeweiligen IAAF- Normanforderungen gebunden. Diese orientieren sich abweichend zu unserem Anspruch häufig nicht an einem vergleichbaren Maßstab für alle Disziplinen, sondern berücksichtigen auch Marketing-Gesichtspunkte.
Mit welchem Konzept wollen Sie die Hoffnungsträger auf ihrem Weg zu internationalen Erfolgen begleiten, fördern und unterstützen?
Idriss Gonschinska:
Ich glaube an Teamwork und bin davon überzeugt, dass man auch in einer Individualsportart wie der Leichtathletik, bei der gegebenen internationalen Wettbewerbsdichte, langfristig nur als Team bestehen kann. Daher streben wir den weiteren Ausbau der vertrauensvollen Zusammenarbeit an zwischen den persönlichen Trainern, den Bundestrainern, Leitenden Bundestrainern, medizinischen Teams, aber auch den Beratern verschiedener Wissenschaftsbereiche, die unter der Leitung der Bundestrainer tätig sind.
Um im internationalen Kontext wettbewerbsfähig zu sein, müssen wir die Bedingungen für die Athleten so gestalten, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass sie sich entwickeln. Es gilt, langfristig die notwendigen Zubringerleistungen zu erarbeiten, um Leistungskorridore entsprechend der Anforderungen im Bereich der Weltspitze ansteuern zu können.
Der Wettbewerb in der Situation, in der internationalen Meisterschaft, ist immer offen. Dort setzen sich die stärksten Persönlichkeiten durch, die am besten vorbereitet sind, die am willensstärksten sind, die außergewöhnlich sind. Das sind nicht immer leicht zu führende und zu steuernde Persönlichkeiten. Man muss diese Athleten frühzeitig erkennen, den Mut haben, mit ihnen zu arbeiten, sie zu fördern, sie wertzuschätzen, ihnen Vertrauen zu geben. Und das machen wir.
In Bezug auf Training und Betreuung der Top-Athleten fiel zuletzt häufig der Begriff der Kompetenzteams. Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht in einer Individualsportart wie der Leichtathletik der Teamgeist innerhalb der Nationalmannschaft?
Idriss Gonschinska:
Bei den vielen Individualisten gibt es dazu natürlich viele unterschiedliche Wahrnehmungen. Aber ich glaube, dass eine gute Arbeitsatmosphäre und ein gegenseitiges Motivieren auch Leistungsfaktoren sein können. Die Athleten verbringen in vielen Phasen des Jahres viel gemeinsame Zeit miteinander. Wenn da die Atmosphäre gut ist, wenn man sich gegenseitig motiviert, wenn man Erfahrungen austauscht, dann bringt das positive Impulse.
In der entscheidenden Situation realisiert jeder seinen Wettkampf für sich alleine. Aber Christian Reif hat zum Beispiel im Anschluss an seinen EM-Titelgewinn in Barcelona eindrucksvoll verdeutlicht, wie hilfreich ein Team auch in der Wettkampfsituation sein kann: Nach zwei Fehlversuchen hat er nach oben geschaut und im Publikum viele rote DLV-Nationalmannschafts-Trikots gesehen. Diese Wahrnehmung vermittelte ihm Motivation und Energie. Im dritten Versuch sprang er persönliche Bestleistung und sicherte sich den Titel.