| Interview der Woche

Idriss Gonschinska: „Vorbereitung auf Tokio noch konsequenter“

Mit dem neuen Jahr rücken neue sportliche Herausforderungen in den Fokus. Die deutschen Athleten haben im Training längst nicht nur den Weg zur WM nach London 2017 eingeschlagen – auch die EM 2018 in Berlin und die Olympischen Spiele 2020 in Tokio (Japan) werfen ihre Schatten voraus. Der Leitende Direktor Sport im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) Idriss Gonschinska berichtet im Interview, welche Bedeutung das Jahr 2017 für die „Road to Tokio“ hat, warum die Doping-Enthüllungen in der russischen Leichtathletik seinen Leistungsanspruch nicht beeinflussen und was ihm bei der Neuformierung des DLV-Trainerteams wichtig ist.
Silke Bernhart

Idriss Gonschinska, das Jahr 2016 ist Geschichte – und damit auch Ihr erster kompletter Olympiazyklus als DLV-Cheftrainer. Welche Erinnerung an die vergangenen Monate ist besonders haften geblieben?

Idriss Gonschinska:

Es ist schwer, da ein Erlebnis hervorzuheben. Insgesamt waren es die vielen besonderen Momente mit der Nationalmannschaft. Da gibt es viele Beispiele. Der Sieg bei der Team-EM 2014 in Braunschweig, wo ein ganz besonderer Spirit herrschte. Die Momente bei der WM in Peking 2015. Und sicherlich auch die Spiele in Rio, mit den Olympiasiegern Thomas Röhler und Christoph Harting und Daniel Jasinski als Bronzemedaillen-Gewinner. Unbenommen davon, dass wir uns in der Breite bessere Ergebnisse gewünscht hätten, haben wir dort als Team sehr gut zusammengehalten. Ja: Der Teambildungsprozess hat mich besonders angesprochen. Auch im Hinblick auf meine eigenen Erfahrungen als junger Trainer, als es so etwas in vergleichbarer Form nicht gab.

Was nehmen Sie mit an Erfahrungen und Erkenntnissen für das neue Jahr und den neuen Olympia-Zyklus bis Tokio 2020?

Idriss Gonschinska:

Das Jahr nach Olympia ist ein Übergangsjahr, das wir zur Neuformierung der Nationalmannschaft nutzen wollen. Wir werden die Ausrichtung der Vorbereitung auf die Spiele in Tokio noch konsequenter gestalten. Die vielfältigen internationalen Meisterschaften sind diesem Ziel deutlich untergeordnet – auch wenn dies schwer ist, weil jedes Jahr internationale Höhepunkte stattfinden. Die Zusammenarbeit mit Spezialisten in den Kompetenzteams soll weiter ausgebaut werden, um den Wissenstransfer zu intensivieren, trainingswissenschaftliche Erkenntnisse und ein erweitertes Gesundheitsmanagement noch mehr in den Trainingsprozess zu integrieren. Wir planen wieder Teamwochen in den einzelnen Disziplingruppen und Lehrgänge mit der ganzen Nationalmannschaft. Regelmäßige Leistungsdiagnostiken und Messplatz-Trainingsformen sollen die individuelle Trainingssteuerung unterstützen.

Sie sprachen von vielen jährlichen Höhepunkten. Auch 2017 geht es Schlag auf Schlag – erst im März mit der Hallen-EM in Belgrad (Serbien) und dann im Sommer mit der Team-EM in Lille (Frankreich) und der WM in London (Großbritannien). Welche Erwartungen setzen Sie in das DLV-Team, ein Jahr nach Rio?

Idriss Gonschinska:

Wir konnten in Rio nicht das Potenzial zeigen, das in der deutschen Leichtathletik-Nationalmannschaft steckt. Ich hoffe, das gelingt uns 2017. Ich jedenfalls bin nach Rio unheimlich motiviert! Nach wie vor sehe ich das Jahr aber als erstes Jahr im Neuaufbau für Tokio. Insofern ordnen wir die internationale Meisterschaften des Jahres entsprechend ein. Wichtig sind jetzt für die Athleten Regenerationsprozesse, Gesundheitsmanagement und die Schaffung der grundlegenden Leistungsvoraussetzungen für die folgenden Jahre. Für die jüngeren Athleten sind die Hallen-Europameisterschaften und auch die U23-Europameisterschaften eine Chance, sich weiterzuentwickeln. Der eindeutige Höhepunkt 2017 sind aber die Weltmeisterschaften in London. Ich bin gespannt auf die Saison!

Das Thema Doping besonders in der Leichtathletik hat zuletzt die sportlichen Schlagzeilen dominiert. Wie sehr haben Sie persönlich die Erkenntnisse zum Doping in Russland überrascht?

Idriss Gonschinska:

Das Ausmaß der Manipulation war auch für mich in hohem Maße schockierend. Es gab natürlich Verdachtsmomente. Aber diese Dimension hat auch mich überrascht. Auf der anderen Seite finde ich es positiv, dass all dies nun aufgedeckt wurde und dass jetzt eine offene Diskussion im Gange ist. In jeder kritischen Situation sehe ich auch eine Chance. Die Suspendierung des russischen Verbandes war sicherlich eine entscheidende Maßnahme, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, und ein ganz wichtiges Zeichen. Ich hoffe stark, dass auf Grundlage der eingeleiteten Veränderungen weltweit ein Umdenkprozess stattfindet.

Haben die Enthüllungen Ihren Leistungsanspruch an die deutschen Athleten beeinflusst?

Idriss Gonschinska:

Besonders leid tut es mir, dass viele unserer Athleten in der Vergangenheit um Medaillenträume gebracht wurden. Die besonderen Momente auf dem Podium kann ihnen keiner zurückgeben. Auf der anderen Seite haben wir immer wieder formuliert, dass das systematische Training mit besonders begabten Athleten und innovativen Trainingsinhalten zu Weltklasse-Leistungen führt. Insofern haben die Enthüllungen meinen Leistungsanspruch nicht beeinflusst. Unser Ziel ist es, dass deutsche Athleten – und natürlich braucht man dazu Ausnahme-Talente – den Sprung in die Weltklasse schaffen. Ich bin überzeugt, dass das nach wie vor in nahezu allen Disziplinen möglich ist. Das ist unser Anspruch.

Nicht nur das Athletenteam formiert sich nach den Abschieden zahlreicher Leistungsträger in Richtung Tokio neu. Sie haben zum Jahresende 2016 auch ein neues, junges Trainerteam zusammengestellt. Was war Ihnen wichtig bei der Auswahl der Trainer?

Idriss Gonschinska:

Wir sprechen über eine Entwicklung, die nicht erst nach Rio eingeleitet wurde. Ich habe 2012 das Amt des Cheftrainers übernommen und mir war von Anfang an klar, dass die Neuformierung des Trainerteams aufgrund der Altersstruktur der Trainer eine der größten Herausforderungen und Hauptaufgaben für uns sein wird, um den Verband zukunftssicher auszurichten. Wichtig ist neben dem fachlichen Know-how und der Erfahrung eines Trainers auch seine Teamfähigkeit. Auffassungsgabe und Entwicklungspotenzial spielen für mich oft eine größere Rolle als der ein oder andere Erfolg, den ein Trainer mitbringt. Auch Offenheit und die Identifikation mit der Leichtathletik und mit unseren Werten sind mir wichtig. Wir wollen kompetenzorientiert im Team gemeinsam Erfolg ansteuern – was bei einer Individual-Sportart gar nicht so einfach ist!

Einige Trainer verabschieden sich nach vielen erfolgreichen Jahren in den Ruhestand oder übernehmen andere Aufgaben. Wie werden ihr Know-how und ihre Erfahrungen weiter getragen?

Idriss Gonschinska:

Wir haben die erfahrenen Trainer der einzelnen Disziplingruppen in die Entscheidungen mit einbezogen. Schon in den vergangenen Jahren haben wir damit begonnen, junge Trainer in die Teams zu integrieren und dort den Übergangsprozess in Mentoren-Programmen vorzubereiten. Viele der neuen DLV-Trainer waren schon vorher in ihren Vereinen, Olympiastützpunkten oder Landesverbänden verankert. Wir haben auch versucht, ehemalige Athleten dazu zu motivieren, ihr Wissen an den Nachwuchs weiterzugeben. Ich denke, wir haben nun eine interessante Mischung zwischen neuen und erfahrenen Trainern – mit der Ausrichtung auch auf 2024 und 2028, nicht nur auf Tokio. Es ist ein komplexer Prozess des Change Managements, der auch Rückschläge mit sich bringen und sicherlich nicht innerhalb von ein oder zwei Jahren abgeschlossen sein wird.

Auch für Sie persönlich ändern sich in Ihrer Arbeit einige Rahmenbedingungen: Als neuer Leitender Direktor Sport im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV)  übernehmen Sie die Gesamt-Verantwortung für den Leistungssport. Wie gehen Sie die neuen Herausforderungen an?

Idriss Gonschinska:

Die neue Rolle und die Zusammenführung von Referaten bietet die Chance, in den Bereichen der Olympischen Leichtathletik, der Jugend sowie der Lehre, Bildung und Wissenschaft noch komplexer zusammenzuarbeiten und die Kommunikationswege zu verkürzen. Diese Aufgabe gehe ich ähnlich an wie die bisherigen: Es gilt, ein starkes Team zu formen, eine intensive Kommunikation zu pflegen und die Potenziale aus den unterschiedlichen Bereichen im Sinne der Athleten wirken zu lassen. Das ist nur umzusetzen, wenn man eine gemeinsame Philosophie entwickelt. Dabei ist die Kompetenz, der Einsatz und die Offenheit aller Mitarbeiter gefragt, denen ich eine sehr hohe Wertschätzung entgegen bringe.

Wenn Sie einen Wunsch für 2017 frei hätten – welcher wäre das?

Idriss Gonschinska:

Sportlich wünsche ich mir, dass die Athleten ihr Potenzial abrufen und kontinuierlich ohne Verletzungen und Rückschläge trainieren können. Dass sie ihre Träume umsetzen und ihre Begeisterung leben. Und ich wünsche mir, dass sich das neue Trainerteam formiert, dass wir einen offenen, kritischen Dialog miteinander führen können. Übergeordnet ist mein Wunsch, dass die Menschen auch jenseits des Sports weltweit tolerant und friedlich miteinander umgehen.

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