Im Blog - Eine Sternstunde voller Gänsehaut
Einsichten und Ansichten, Einblicke und Ausblicke. „Im Blog“ gibt Ihnen die leichtathletik.de-Redaktion in gewissen Abständen, aber doch immer wieder, etwas davon. Lesen Sie selbst!

Als dieser „Fehler“, der dort als letztes Ergebnis der Veranstaltung für den Bremer Weitspringer Sebastian Bayer eingetragen worden war, nicht korrigiert wurde, konnte ich mich selbst davon überzeugen, dass es kein Zahlendreher oder ähnliches war. Immer wieder wurde der Sprung auf der Videotafel gezeigt. Noch nie habe ich bei einer Sportveranstaltung so eine Gänsehaut gehabt wie in diesem Moment.
Tschüss ihr Pessimisten!
„Eine Sternstunde der Leichtathletik“, meinte DLV-Cheftrainer Herbert Czingon. Und dem kann sich jeder wohl nur anschließen. Wer wie der Chefcoach dem deutschen Team vorher zehn Medaillen zugetraut hatte, wurde von den Pessimisten, von denen es immer genug gibt, nur müde belächelt. Auch über meine forsche Wette mit meinem Tischnachbar auf der Presse-Tribüne lächelte dieser zunächst nur.
Vom britischen Leichtathletik-Verband kam er und ich forderte ihn gleich am Anfang heraus. Mein Team gegen seines. Wer holt mehr Medaillen? Ariane Friedrich, Silke Spiegelburg, Sebastian Bayer und Co gegen Dwain Chambers, Mo Farah, Marilyn Okoro und Konsorten. Ich muss zugeben - zu 100 Prozent überzeugt von meinen Siegchancen war ich zu Beginn noch nicht, was sich aber schnell änderte.
Was die deutschen Leichtathleten im Oval Lingotto zeigten, waren nicht nur Ergebnisse, die zu Medaillen reichten, weil einige der Stars nicht am Start waren. Das DLV-Team überzeugte durch starke Leistungen. Dann top sein, wenn es darauf ankommt und dazu auch nicht die Nerven verlieren. Ergebnisse, die sich auch auf Weltniveau nicht nur sehen lassen können, sondern dort das Geschehen mitbestimmen.
Und noch einen drauf setzen
2,01 Meter im Hochsprung, 4,75 Meter im Stabhochsprung, 19,66 Meter im Kugelstoßen, 7,17 Sekunden über 60 Meter - wer davon im Vorfeld geredet hätte, wäre aber ganz schief angeschaut worden. In die Klapsmühle hätte es wohl jeden verschlagen, der von 8,71 UND 8,22 Metern im Weitsprung geträumt hätte. Die deutschen Leichtathleten und allen voran Sebastian Bayer haben nicht nur für eine Sternstunde gesorgt. Sie haben genau das gezeigt, was viele sonst vermisst hatten: Absoluten Siegeswille und hochklassige Leistungen. Dann noch einen drauf setzen, wenn eigentlich schon alles entschieden ist.
Zu keinem Zeitpunkt war ein solches Ergebnis wichtiger als jetzt ein knappes halbes Jahr vor der WM in Berlin. „Berlin, Berlin, auf geht’s nach Berlin“, rief das deutsche Team in der „Stillen Stunde“ geschlossen. Die deutschen Leichtathleten sind nicht mehr leise - jeder konnte sie in den drei Tagen der Hallen-EM deutlich wahrnehmen. Durch hervorragende Leistungen in den Wettkämpfen und lautstarke Unterstützung außerhalb. Die Stimmung stimmt.
Jeder Deutsche, der am Sonntagabend die Halle in Turin verließ, war noch immer verzaubert. Auch mein britischer Tischnachbar hat mir zum Abschied anerkennend auf die Schulter geklopft. In Berlin sehen wir uns wieder - dort will er nicht mehr mit mir wetten. Das DLV-Team hat ihm Angst gemacht.
Anja Herrlitz ist Projektmanagerin bei leichtathletik.de