Ingo Schultz will das DLV-Trikot auspacken
Ein Moment ist Ingo Schultz aus seinen rund zwanzig Monaten Verletzungspause noch als ganz besonders schlimm in Erinnerung. "Das war hart, die anderen 400 Meter rennen zu sehen", sagt er, wenn er über seine Zuschauerrolle beim Leverkusener Bayer-Meeting im letzten Sommer nachdenkt. Jetzt läuft der Europameister selber wieder und stimmt dabei zunächst leise Töne an.
Ingo Schultz hat sein Comeback vollzogen (Foto: Chai)
"Ich bin schon vorsichtiger geworden, ich mache keine Prognosen mehr", stellt der 30-Jährige fest. In seiner Comebacksaison, die für ihn im Mai begonnen hat, will er sich nicht mehr selbst so unter Druck setzen wie in der Vergangenheit. Wie vor den Olympischen Spielen in Athen etwa, wo er als einer der Hoffungsträger der deutschen Leichtathletik den Gesamteindruck nicht aufzupolieren vermochte.Spätstarter und Seiteneinsteiger Ingo Schultz hat ein neues Kapitel in seiner beeindruckenden Leichtathletik-Karriere aufgeschlagen. Eines, das seinen Kampfgeist unterstreicht. Der 2,01-Meter-Riese, der momentan muskelbepackte 101 Kilogramm auf die Bahn bringt, schreibt und denkt in diesem Kapitel aber eher kurzfristig.
Das EM-Jahr abwarten
Olympische Spiele? 2008 in Peking? Soweit plant er noch nicht. Europacup in Malaga (Spanien; 28./29. Juni), Europameisterschaft in Göteborg (Schweden; 7. bis 13. August), das sind die Stationen, über die der Viertelmeiler spricht. "Alles weitere hängt stark von diesem Jahr ab. Danach denke ich darüber nach, wie es weitergeht. Ich will erst einmal wieder alles über die Bühne bringen."
Ingo Schultz ist vorsichtiger geworden in seinen Äußerungen, aber er strahlt Hoffnung und auch Selbstvertrauen aus. Er weiß, wo er nach seiner langen Abstinenz wieder hin will.
Aber er bremst überhöhte Erwartungen und tut gut daran. "Ich hänge im Vergleich zu 2001 und 2002 noch etwas hinterher", gesteht er ein. Damals wurde er sensationell Vize-Weltmeister und Europameister.
Kein altes Eisen
"Ich werde noch etwas Zeit brauchen, es kann auch sein, dass man sich nicht alles in einem Jahr erarbeiten kann. Doch die ausgebaute Sprintfähigkeit macht Hoffnung." Diese hat er am letzten Wochenende in Dormagen mit einer neuen 100-Meter-Bestzeit (10,53 sec) unterstrichen. Für ihn ist es ein Beweis: "Ich gehöre noch nicht zum alten Eisen." Überhaupt wäre er für seinen Trainer Thomas Kremer, zu dem er nach dem Olympiasommer 2004 gewechselt ist, als Sportler eher noch mit den Voraussetzungen eines 25-Jährigen ausgestattet.
Der lange Zeit verletzte Fuß ist nun in Ordnung, der zu Saisonbeginn lädierte Rücken ebenfalls wieder im Lot. Ingo Schultz, der in seiner Verletzungspause das Leben eines Hochleistungssportlers konsequent weiterführte, viel Zeit für Training, Arzt- und Physiotherapie-Termine aufbrachte, steht wieder gesund auf der tartanroten Bühne.
Die Leidenszeit ist vorbei. Lange genug war sie. Angefangen hatte es schon vor den Olympischen Spielen in Athen. "Ich hatte immer wieder gesundheitliche Probleme, auch schon 2003", erinnert sich Ingo Schultz, "für Olympia wurde es damals knapp."
Summe kleiner Dinge
Doch dieses Ziel lockte und der Plan wurde durchgezogen. Erst kurz vor Athen ging der 400-Meter-Riese erstmals wegen seiner Fußbeschwerden zum Arzt, die richtige Diagnose wurde aber erst Monate später gestellt. "Irgendwann ging's nicht mehr", erklärt er. Er folgte schließlich dem ärztlichen Rat und machte sich daran, die Verletzung, die er auf eine "Summe vieler kleiner Dinge" zurückführt, richtig auszukurieren.
Das sollte mehr Zeit in Anspruch nehmen, als zunächst abzusehen war. In ein Loch ist der bodenständige Ingo Schultz dabei nicht gefallen. "Ich habe noch 2004 geheiratet, die Familie wurde für mich zum Rückgrat." Es war ein Schlüssel für seine Rückkehr: "Das Umfeld muss einen tragen."
Ein Rücktritt sei nie ein ernsthaftes Thema gewesen. Dafür waren damals auch die Erinnerungen an Athen noch zu frisch. "Die Staffel hatte dort schon wieder viel Spaß gemacht, das war ein tolles Erlebnis." Trotzdem setzte er sich danach mit vielen Leuten zusammen und klopfte in diesen Gesprächen ab, was man ihm denn noch so zutrauen würde. Das Feedback war ermutigend, man attestierte Ingo Schultz nach wie vor Potenzial.
Trennung, Umzug, Vereinswechsel
Was folgte, war die Trennung von seinem Erfolgstrainer Jürgen Krempin, der Wechsel zum TSV Bayer 04 Leverkusen und der Umzug von Hamburg ins Rheinland. Dort hat er ein professionelles Umfeld gefunden. "Wo hat man sonst solche Möglichkeiten?", fragt Ingo Schultz und denkt dabei an das üppig ausgestattete Trainingsgelände in Leverkusen. Der neue Verein gab ihm auch im letzten Jahr noch einmal eine Chance, verlängerte den Ein-Jahres-Vertrag, ohne dass der Vorzeigeathlet überhaupt einmal das rote Trikot getragen hatte. Die Verantwortlichen in der TSV-Führungsetage hatten damit, zumindest am nun vollzogenen Comeback von Ingo Schultz gemessen, den guten Riecher, den man ihnen nachsagt.
Dass sie vollends richtig liegen, will der Top-Athlet selbst in den nächsten Wochen beweisen. Die 46,69 Sekunden, beim ersten 400-Meter-Rennen in Rehlingen an Pfingsten gelaufen, nimmt dieser als Fingerzeig. "Die Zeit war okay, ich bin hinten nicht durchgekommen. Das soll natürlich ausgebaut werden. Im August kommt es darauf an, wer jetzt die Form hat, macht etwas falsch."
Trainingsgemeinschaft
Zum Formaufbau trägt auch der Wattenscheider Kollege Bastian Swillims bei. Beide waren in den letzten Monaten gemeinsam in Trainingslagern auf Lanzarote, in Albufeira und Monte Gordo. Sie bestätigen unisono, dass sie voneinander ungemein profitieren würden. Nicht nur rein sportlich, sondern auch dann, wenn es darum geht, Verletzungsprobleme zu verarbeiten. Diese kleine Trainingsgemeinschaft könnte schon bald wieder Leistungsgarant für eine schnelle deutsche 4x400-Meter-Staffel sein. Der eine, Bastian Swillims, als gewohnt starker Schluss-, der andere als flotter Startläufer, der die Basis legt. So wurden jedenfalls früher Erfolge gefeiert.
Ingo Schultz ist wieder dabei. Er freut sich darauf, die anderen Athleten zu sehen, zu denen er in der letzten Zeit nicht soviel Kontakt hatte. Und er freut sich auch darauf, endlich das neue Nationaltrikot, das noch im Schrank liegt, auspacken zu dürfen: "Bisher habe ich das nämlich noch nicht gemacht." Wenn es soweit ist, dann hat Ingo Schultz einen ersten entscheidenden Schritt in diesem EM-Jahr gemacht.