Haile Gebreselassie humpelt von der Bahn
Die Zuschauer auf den Rängen verwandelten das "Fanny Blankers Koen Stadion" in ein wahres Tollhaus. Ihre Begeisterung brach sich lärmend Bahn, heiter liefen die Wellen um das Oval, brachen aus, verebbten und brachen wieder aus. Unten auf dem roten Kunststoff lief Haile Gebreselassie, drehte unablässig seine Runden, als er wie aus heiterem Himmel nach etwas mehr als 39 Minuten an Tempo einbüßte, abbremste und beschwörend die Hände hob, als habe ihn Gottes Urteil getroffen. "Meine Wade, meine Wade", stöhnte der kleine Äthiopier und zog ein Schmerz verzerrtes Gesicht, "sie tut höllisch weh."
Haile Gebreselassie wird umsorgt (Foto: Hörnemann)
Tief enttäuscht und frustriert humpelte der Wunderläufer zur Seite und brauchte einige Sekunden, um die Situation vollends zu begreifen. "Laufen ist wie leben", begann er wenig später zu philosophieren, "Freud und Leid liegen dicht beisammen." Eingangs der Gegengeraden, just an der Stelle, wo ihm Jos Hermens, sein Manager und Mentor, vorher die genauen Zwischenzeiten zugerufen hatte, war sein Traum vom Stundenweltrekord zerplatzt.Arturo Barrios, ein gebürtiger Mexikaner, inzwischen US-Staatsbürger, hatte vor elf Jahren im französischen La Flèche exakt vermessene 21.101 Meter im Laufschritt zurückgelegt. Haile Gebreselassie wollte sich ebenfalls in die Sportgeschichtsbücher eintragen, was vor ihm bereits so Größen wie Paavo Nurmi, Emil Zatopek, Ron Clarke und auch Jos Hermens gelungen war. Aus und vorbei! "Mr. Hengelo, wie sie ihn voller Respekt in dem grenznahen Industriestädtchen rufen, musste in der 34. Runde den einsamen Kampf gegen die unbarmherzige Uhr aufgeben.
Hexenkessel explodierte in einem Aufschrei
Der Hexenkessel explodierte in diesem für ihn so bitteren Moment in einem zigtausendfachen Aufschrei, dieses plötzliche Erkennen: Haile ist raus! Der Liebling der Massen kauerte auf dem Rasen und streckte, einem Maikäfer ähnlich, alle Viere von sich. Doch dann grinste er wie auf Befehl fröhlich ins Publikum und ließ sich aufheitern von den donnernden "Haile, Haile"-Rufen.
Haile Gebreselassie, ein Siegertyp auch, wenn er mal nicht gewinnt, spielte den Gute-Laune-Onkel, obwohl ihm gar nicht danach zumute war. "Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären", sagte er leise und tastete behutsam die plötzlich verhexte Wade ab, "man muss sie hinnehmen, ohne zu klagen." Das Gewusel um ihn herum nahm sogleich beängstigende Formen an. Mehrere Betreuer kamen wie ein wild gewordener Bienenschwarm in den Innenrum geflogen, ein Arzt legte fachmännisch einen Verband um den lädierten rechten Unterschenkel. Jos Hermens eilte herbei, fasste ihn fürsorglich auf die Schulter und wollte aus nächster Nähe erfahren, was Sache war. "Ich spürte einen Stich in der Muskulatur, danach ging nichts mehr", eröffnete ihm sein Schweiß überströmter Schützling und redete sich selber wieder Hoffnung zu, "ich glaube aber nicht, dass die Verletzung besonders schlimm ist."
Ein Physiotherapeut geleitete ihn kurz darauf querbeet über den grünen Rasen. Haile Gebreselassie winkte noch ein letztes Mal in die Menge und machte sich auf den Weg in die Katakomben des Stadions, in dem er vier seiner insgesamt fünfzehn Weltrekorde aufgestellt hatte. "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben", schallte ihm die Stimme eines treuen Fans entgegen, "beim nächsten Mal wird alles besser." Obwohl "Mr. Hengelo" den Satz, weil in holländisch vorgetragen, nicht richtig verstanden hatte, wanderte sein wacher, listiger Blick noch schnell Richtung Tribüne, wo er den Überbringer der frohen Botschaft wähnte. "Thank you", rief er höflich zurück, "danke schön." Dann fiel der Vorhang.