"Ivan, der Unersättliche" schiebt Frust
Der Mann sammelte die Titel wie andere Leute Briefmarken. Olympiasieger war er, fünf Mal Weltmeister in der Halle und vier Mal im Freien. Ivan Pedroso, der 30-jährige Kubaner, hat alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Er könnte heute aufhören und morgen die Beine hochlegen. "Ach was", hatte der Medaillen-Jäger noch bei den Panamerikanischen Spielen verlauten lassen, "ich will in Paris meinen Titel verteidigen." Der Traum ist ausgeträumt. Denn wenn heute (20 Uhr) das Weitsprung-Finale mit den zwölf besten Athleten ausgetragen wird, sitzt "Ivan, der Unersättliche" mit einem lädierten rechten Fuß auf der Tribüne. Gold war sein Ziel. Aus und vorbei.
Ivan Pedroso kann in diesem Jahr nicht jubeln. Die WM war für ihn nach einem Sprung vorbei. (Foto: Kiefner)
In Havanna hatte er sich vorbereitet. Mit seinem schwarzen Mercedes, ein Extra-Präsent für seinen ersten WM-Titel in Stuttgart 1995, war Ivan Pedroso tagein, tagaus zum Olympiastadion gefahren, das im östlichen Stadtteil liegt. Milan Matos war stets dabei. "Ich habe ihn in der Sportschule entdeckt", erinnerte sich sein Coach, "damals war Ivan zwölf Jahre jung." Jetzt ist er dreißig und einer der erfolgreichsten Leichtathleten in Südamerika . "Ivan wollte laufen, doch die Lehrer waren der Meinung, er sei zu klein." Matos ließ ihn springen, erkannte sofort sein Talent und erklärte seinem Trainerkollegen Rolando Viera, dass es besser sei, wenn er die Gruppe wechseln würde.Hauptsache Leichtathletik
Gesagt, getan! Klein-Ivan war's egal. "Ob Laufen oder Springen", blickte er zurück auf die Anfänge seiner Karriere, "Hauptsache Leichtathletik!" Manuel Matos hat ihn dann zu einem Weitspringer der Extraklasse geformt. Achtzehn Jahre währt ihre Zusammenarbeit. Achtzehn Jahre, in denen sie zahllose Erfolge gefeiert haben.
Ivan Pedroso ist noch genauso ehrgeizig wie früher. "Was habe ich mich geärgert, dass ich bei der Hallen-WM in Birmingham nicht starten konnte", hatte er noch mit grimmiger Miene erzählt, "das war für mich wie ein Schock." Fünf Titel in direkter Folge hatte der kubanische Sport-Heros geholt, ein sechster blieb ihm verwehrt. Weil ein Muskelfaserriss im linken Oberschenkel seine Teilnahme verhinderte. "Drei Monate habe ich pausiert", sagte er, "in dieser Zeit habe ich mich erholt und den Akku neu aufgeladen." Die alte Blessur ist ausgeheilt, doch eine neue leider hinzugekommen, die gleich beim ersten Versuch in der Qualifikation wieder aufgebrochen ist.
"Ich habe den Weltrekord im Visier"
Hungrig wie ein Wolf wollte er auf Beutezug gehen. "Ich will Siege, so viele wie möglich", hatte Ivan Pedroso voller Tatendrang kund getan, "und auch den Weltrekord habe ich im Visier." Schlaflose Nächte habe ihm die Jagd auf Mike Powells Höchtmarke (8,95 Meter in Tokio 1991) in der Vergangenheit schon bereitet. "So ein Rekord lässt sich leider nicht programmieren", weiß er aus Erfahrung, "da müssen die Bedingungen hundertprozentig stimmen." Weit entfernt ist Pedroso nicht. "Meine persönliche Bestleistung steht bei 8,71 Metern", bemerkte er, "mir fehlt nicht allzu viel."
Aber nun steht er außen vor. Mit Tränen in den Augen hatte er nach seinem misslungenen Sprung noch das Gespräch mit seinem Trainer gesucht. Manuel Matos saß auf den Rängen direkt neben der Sandgruße. Ruhig redete er auf seinen Schützling ein und riet ihm, noch einen zweiten Versuch zu unternehmen. Ivan Pedroso drehte ab, doch wenig später stiefelte er tief enttäuscht zum Kampfgericht, gab seinen Verzicht bekannt. Rien ne va plus! Nichts ging mehr. Mit Tränen in den Augen schnappte er sich seine Siebensachen und verließ wortlos den Ort des bitteren Geschehens.
Allein sein mit dem Frust
In der linken Hand trug er seine Spikes und eine Wasserflasche, in der rechten seine kleine Sporttasche. Ivan Pedroso, einer der ganz Großen, tauchte unter in den Katakomben des "Stade de France". Denn er wollte nichts mehr sehen und nicht mehr hören. Wollte nur noch allein sein mit seinem Frust.