Die Sicht der Dinge von Theo Rous
Jens Bodemer war ein erfolgreicher Athlet und ist ein guter Trainer und kompetenter Journalist. Wenn er sich das Recht zu kritischen Äußerungen in seinem Kommentar mit dem Titel "Zwischenzeit – Das Schweigekartell ist gebrochen – na und?" in den "Leichtathletik news" vom 11. November 2003 nimmt, ist das legitim und kann hilfreich sein. Dass er Schwächen im Kampf gegen Doping kritisiert, dass er beklagt, es habe sich seit Dietmar Mögenburgs Zeiten nichts geändert, dass er die Hoffnungen auf eine Lösung der Dopingprobleme nach den Enthüllungen aus den USA skeptisch betrachtet: Wer mag es ihm verübeln?!

Theo Rous. (Foto: Klaue)
Dass er die Gefahren im Leistungssport mit seinem systemimmanenten Überbietungszwang anprangert: Auch das ist nachvollziehbar, wenn auch nicht neu. Die Soziologen Bette und Schimank haben schon vor fast einem Jahrzehnt die Mechanismen des Hochleistungssport wissenschaftlich und höchst differenziert aufgearbeitet: Abweichendes Verhalten ist nicht allein eine individuelle Entscheidung. Bei entsprechendem Umfeld und Rahmenbedingungen kann ein Athlet in einer – von Bette/Schimank so genannten – "biographischen Falle" landen, die Bodemer als vom sozialen Rollenzwang geprägtes Handlungsmuster bezeichnet: Das "Sinnsystem des Sports" lasse dem Sportler in bestimmten Situationen gar keine Wahl, außer zu dopen. Der Unterschied: Bette/Schimank analysieren das Verhalten, das zu Doping führt, Bodemer rechtfertigt es.Damit beginnen aber für mich einige Gedankengänge des Jens Bodemer, denen ich nicht folgen kann:
Regeln sind die Grundlage des Sports
Der Sport hat sich den Sinn gegeben, Leistungen mit den Ressourcen des eigenen Körpers und der eigenen Psyche zu erbringen. Dazu hat er sich Regeln gegeben. Ohne die Einhaltung von Regeln ist dem Sport seine Grundlage entzogen. Wer diesen Sinn des Sports nicht akzeptiert, hat immer die Chance, sich nicht in dieses System zu begeben oder es zu verlassen. Wer sich aber hinein begibt, hat die Regeln einzuhalten. Tut er es nicht, ist es legal und legitim, die Einhaltung der Regeln einzufordern und Regelverletzungen zu sanktionieren.
Aus meiner Sicht kann die Konsequenz von Bodemers Argumentation eigentlich nur sein: Abschaffung des Leistungssports oder Freigabe von Doping. Er sollte Bette/Schimank bis zum Schluss lesen: Sie analysieren zwar die systemischen Zwänge des Spitzensports in aller Schärfe, aber sie weisen Perspektiven auf, wie der Sport diese bekämpfen soll und kann. Dazu gehört keinesfalls die Rechtfertigung von Verstößen, wie sie Bodemer insinuiert, im Gegenteil: Wer sie dulde, richte den Sport zugrunde.
Dopingregeln sind sachliche juristische Texte
Wer sich die Mühe macht, das System der Dopingregeln und -sanktionen zu lesen und die Argumentationen der für die Einhaltung der Regeln verantwortlichen, von Bodemer ironisch so genannten tugendhaften "Gutmenschen" zur Kenntnis nimmt, wird nirgendwo – zumindest nicht im DLV – moralisierende Jeremiaden oder "moralfundamentalistische Phärisäer" finden, sondern sachliche, juristische Texte, die von höchstrichterlichen Instanzen des Staates gebilligt und mitgeprägt sind. Es ist eben nicht nur eine Sache der Moral, Verstöße gegen Regeln zu ahnden. Das ist Sache der auf demokratischem Wege zustande gekommenen, den ebenfalls demokratisch vereinbarten Sinn des Sports bewahrenden Gesetze.
Wer Verstöße gegen Gesetze, auch gegen die im Sport, mit den "brachialen" Zwängen des Systems relativiert und akzeptiert, legt die Axt an die Wurzeln rechtsstaatlicher Ordnung. Wer dem im Sport Vorschub leistet, wie Bodemer es tut, muss auch dem unverschuldet in Not geratenen, arbeitslosen Häuslebauer konzedieren, sich durch einen Einbruch in die nächste Sparkasse von der existenzbedrohenden Schuldenlast zu befreien, als Opfer kapitalistischer Systemzwänge.
Defizite nicht ausgeschlossen
Das schließt nicht aus, dass es im System des Sports Schwächen, Defizite und Härten gibt. Die ins Gigantische gewachsenen Belohnungen, die Reduzierung der Belohnung auf wenige Sieger ("The winner takes it all"), die Abhängigkeit des fördernden Umfeldes (auch von Funktionären und Trainern) von den Leistungen der Athleten und manches andere sind ursächlich mitverantwortlich für illegale individuelle Abweichungen.
Diese Defizite gilt es, so weit dies möglich ist, auszumerzen. Es ist in der Tat unerträglich, dass das Umfeld von Dopingsündern nicht in hinreichendem Maße zur Verantwortung gezogen wird. Auch über Normen kann man sicher streiten. Und selbst verständlich muss – mehr als bisher geschehen – Druck auf die Organisationen des Sports und deren verantwortliche Anführer ausgeübt werden, um weltweit den Kampf gegen Doping mit den gleichen Waffen zu führen. Hier ist ohne Zweifel Handlungsbedarf angesagt, mehr und nachdrücklicher als bisher.
Was ist mit den betrogenen Nicht-Dopern?
Aber ich halte es für fragwürdig, unseren sonst in der Regel und in vielen Belangen recht autonom und individuell agierenden Spitzensportlern zuzugestehen, ausgerechnet bei Doping sei es ihnen erlaubt, als Entschuldigung von Verstößen, mit denen sie sich unrechtmäßig Vorteile gegenüber ihren nicht dopenden Konkurrenten verschaffen, allein und ausschließlich die unerträglichen Zwänge des Systems geltend zu machen. Was ist z.B. mit der Mehrheit der Wettkampfsport betreibenden Athleten, die auch Zwänge haben, aber nicht dopen und von den Dopern betrogen werden? Die gibt es auch!
Bodemer wirft diesen moralinsauren Funktionären Heuchelei vor, weil sie vermutlich, wären sie in solche Situationen geraten wie unsere Spitzenathleten, ebenfalls bei Gelegenheit zum "Zaubertrank" gegriffen hätten: "Wer frei ist von Schuld, der werfe den ersten Stein". Zugegeben: Dass sich auch Funktionäre in fiktiven Situationen gesetzeswidrig verhalten hätten, kann niemand mit Sicherheit ausschließen. Aber wie ist das zu verstehen: Nur weil jemand nicht die Möglichkeit gehabt hat, zu dopen, es aber gekonnt hätte, soll er für alle Zeiten disqualifiziert sein, gegen Doping zu kämpfen? Eine abartige Logik.
Folgt man ihr, kann jeder jeden jederzeit mundtot machen.
Theo Rous ist DLV-Vizepräsident und Anti-Doping-Beauftragter.
In unregelmäßigen Abständen äußern sich auf leichtathletik.de Insider, Funktionäre, Journalisten, Athleten oder andere Experten, die eng mit der Leichtathletik verbunden sind, meinungsfrei und unabhängig von der Redaktion und dem DLV zu ihrer "Sicht der Dinge".