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Johannes Vetter und seine Tränen voller Stolz

Es war vielleicht das emotionalste Interview der deutschen Leichtathleten bei diesen Olympischen Spielen. Johannes Vetter steht am Samstagabend in Rio vor der Fernseh-Kamera der ARD und weint. Nicht etwa, weil er einer Speerwurf-Medaille nachtrauert, sondern weil er soeben Vierter im olympischen Finale geworden ist. Ein Beispiel dafür, dass nicht alleine Edelmetall die Leistung eines Athleten spiegelt.
Alexandra Dersch

Eigentlich ist Johannes Vetter kein Mensch, dem schnell die Tränen kommen. „Vor allem weine ich sonst nicht in der Öffentlichkeit“, sagt der 23-Jährige. Der muskulöse Werfer mit dem römischen Krieger-Speerwerfer als Tattoo auf dem Rücken – in Rio wird er plötzlich ganz weich. Es ist die Anspannung der letzten Jahre, die sich in diesem Moment entlädt. „Ich habe so einen weiten Weg hinter mir. So viel riskiert, als ich vor zwei Jahren das Projekt Offenburg gewagt habe. Und habe so viel zurückbekommen. In dem Moment war ich einfach nur dankbar, erleichtert und unglaublich stolz.“

Er war gerade 21 Jahre alt, als Johannes Vetter beschließt, seine Familie und sein gewohntes Leben in Dresden hinter sich zu lassen. „Ich war damals ein Werfer, der gerade so an den 80 Metern kratzte, aber auch gut und gerne Wettkämpfe unter 70 Metern einstreute.“ Heute, im Oktober sind es genau zwei Jahre später, ist er der viertbeste Speerwerfer der Welt mit einer Bestleistung von 88,23 Metern.

In jedem seiner Worte schwingt die Dankbarkeit mit. Zurück in Deutschland genauso wie vor nicht einmal einer Woche in Rio. „Die Obergfölls, mein Manager Werner Daniels, mein Verein, meine Familie, meine Freundin, meine Freunde – ich bin allen so dankbar, dass sie mich auf diesem Weg unterstützt haben.“ Sein Abschied aus Dresden, er sah ihn damals als großes Abenteuer. „In meinem Kopf gab es kein Scheitern. Das musste einfach klappen.“ Heute im Rückblick weiß er, dass dieses Abenteuer auch gut und gerne hätte schief gehen können. „Es war ein Risiko.“ Doch ein Risiko, was heute, auch ohne Medaille, im Rückblick alle Entbehrungen wert war. 

Raketenstart im Projekt Offenburg

Gleich in der ersten Saison mit Boris Obergföll als seinem neuen Trainer packte er knapp sechs Meter auf seine alte Bestleistung drauf. „Ein Raketenstart“ nennt Johannes Vetter diesen Auftakt selbst. War er 2014 noch Fünfter in Deutschland, wurde er 2015 Siebter bei der WM in Peking (China). Das Geheimnis des Erfolgs-Duos? Gegenseitiges Vertrauen. „Boris ist ein 90-Meter-Werfer. Der weiß, was er tut“, sagt Johannes Vetter. Auf der anderen Seite weiß Boris Obergföll aber auch genau, dass jeder Speerwerfer zwar einem technischen Grundschema folgt, aber in diesem seine eigene Handschrift entwickeln muss. „Wir entwickeln meine Technik gemeinsam. Ich bringe meine Ideen genauso ein wie Boris.“ Ein Tüftler-Duo mit dem Speer sozusagen.

Und so sind es wieder ein Jahr später sechs Zentimeter, die dem Modell-Athleten zu Bronze im Olympischen Finale fehlen. Sechs Zentimeter. „Das ist nichts.“ Und doch genug, als dass er die drei vor ihm platzierten Athleten ohne Schwierigkeiten als würdige Medaillengewinner anerkennt. „Das sind alle Drei 90-Meter-Werfer. Sie haben es verdient, da zu stehen.“

Harmonische Konkurrenz im Speerwurf-Lager

Gönnen können – eine Tugend, die auch im Sport nicht mehr selbstverständlich ist. Aber eine Tugend, die Johannes Vetter, den seine Freunde nur „Jojo“ nennen, auch zu einem glücklichen Menschen macht. „Vierter Platz bei Olympia, das ist einfach Wahnsinn.“ Und so ist es für ihn auch selbstverständlich, dass alle Welt nach dem Speerwurf-Wettkampf naturgemäß vor allem über den Olympiasieger Thomas Röhler (LC Jena) sprach.

„Ich gönne Thomas den Sieg von Herzen. Er hat es verdient“, sagt er direkt nach dem Wettkampf, und auch Tage später spürt man seine tiefe Anerkennung für den ersten deutschen Speerwurf-Olympiasieger seit 1972. „Er ist ein so fairer Sportler. Selbst wenn es bei ihm mal in einem Wettkampf nicht läuft, so habe ich ihn danach noch nie als ungerecht erlebt.“

Es sei eine „harmonische Konkurrenz“, die die beiden verbinde. „Wir sind natürlich erst einmal Einzelsportler, aber unterstützen uns im Wettkampf und gehen danach auch zusammen ein Bier trinken und reden privat. Und je mehr deutsche Flaggen da vorne auftauchen, umso mehr freuen wir uns.“ So ist es auch der geteilte Stolz, der vereinende Ehrgeiz, der den deutschen Männer-Speerwurf derzeit in der Welt so stark macht.

Durchweg positive Rückmeldung auf Rio-Interview

Das tränenreiche Interview ist Johannes Vetter daher auch mit Recht gar nicht unangenehm. Im Gegenteil: Es hat dazu geführt, dass Fernseh-Deutschland den Menschen hinter dem Speer, hinter den Muskeln wahrgenommen hat. „Ich habe so viele positive Rückmeldungen dazu bekommen“, sagt Johannes Vetter. Ein Feedback, das ihm neben neuen Fans und potenziellen Sponsoren auch jede Menge Motivation für die nächsten Jahre bringen wird. „Ich weiß, ich habe mein Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft.“

Einen erneuten Einblick in sein riesiges Talent will er Zuschauern und Konkurrenz bereits in den kommenden Tagen präsentieren. Am Samstag (27. August) wirft er beim Diamond League Meeting in Paris (Frankreich), Donnerstag (1. September) beim Diamond League Finale in Zürich (Schweiz), Freitag (2. September) in Thum und am Samstag (3. September) beim 75. ISTAF in Berlin.

Und danach? „Vier Wochen nichts tun.“ Füße hoch, in der Sonne liegen, der Seele und dem angeschlagenen rechten Knie Zeit geben, diese Saison, diesen Weg, der hinter Johannes Vetter liegt zu verarbeiten. Ohne Tränen. Aber mit jeder Menge berechtigtem Stolz.

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