Julian Reus - „Haben gesehen, was möglich ist“
Julian Reus lieferte am vergangenen Freitag im Weinheimer Sepp-Herberger-Stadion eine perfekte Olympia-Generalprobe ab. Innerhalb von 90 Minuten lief der Wattenscheider Sprinter in fabelhaften 10,09 Sekunden die zweitschnellste 100-Meter-Zeit, die jemals ein Deutscher erzielte, und knackte anschließend mit der 4x100 Meter-Staffel den 30 Jahre alten deutschen Rekord.
Julian Reus, deutscher Rekord mit der Staffel, über 100 Meter nur knapp daran vorbeigeschrammt, können Sie diese Leistungen überhaupt schon realisieren?Julian Reus:
Ich kann es noch nicht wirklich glauben. Ich denke, das kommt erst mit der Zeit.
Wie überraschend ist diese Leistungsexplosion für Sie? Hatten Sie aufgrund Ihrer Trainingswerte damit rechnen können?
Julian Reus:
Solche Zeiten kann man nicht erwarten, man kann sie sich höchstens erhoffen. Ich hatte mit einer Zeit unter 10,20 Sekunden geliebäugelt und wusste, dass ich in diesen Bereich laufen kann. Jetzt bin ich unter 10,10 Sekunden gelaufen und kann es noch nicht glauben. Dass wir mit der Staffel deutschen Rekord laufen können, war uns allen bewusst. Planbar ist so ein Rekord allerdings nicht. Umso geiler, dass es geklappt hat.
10,09 Sekunden: Damit hätten Sie die Olympianorm (10,16 sec) für einen Einzelstart über 100 Meter deutlich unterboten. Leider kommt die Zeit zu spät, die Nominierung ist bereits erfolgt. Wie sehr ärgert Sie das in diesem Moment?
Julian Reus:
In diesem Augenblick verschwende ich daran keinen Gedanken, weil die Freude einfach zu sehr überwiegt. Außerdem hatte ich schon vorher die Möglichkeit die Norm zu laufen. Es gab einige Rennen mit guten Bedingungen, die die Chance dazu geboten haben. Sicherlich wird in ein paar Tagen ein bisschen Wehmut dabei sein, wenn ich mir das 100-Meter-Finale im Fernsehen anschaue.
Gerade einmal drei Hundertstelsekunden trennen Sie nun noch vom deutschen Rekord, gehalten von Frank Emmelmann (SC Magdeburg), aus dem Jahre 1985. Mit dieser Zeit sind Sie sind in eine neue Sprintdimension vorgedrungen. Halten Sie es für realistisch, dieses Niveau mittelfristig zu stabilisieren, oder war der Lauf ein positiver Ausreißer?
Julian Reus:
Ich bin in dieser Saison schon sehr stabil 10,30er Zeiten gelaufen und auch einige Male im Bereich von 10,20 Sekunden, was nach einem Verletzungsjahr schon sehr gut ist. Dass dann irgendwann ein Ausrutscher kommt, war auch klar. Wenn ich mich nächstes Jahr auf tiefe 10,20er-Zeiten stabilisieren kann, wäre ich sehr zufrieden. Es wäre vermessen zu glauben, dass ich jetzt jedes Jahr 10,10 Sekunden laufen kann. Dazu muss einfach alles passen. Die Vorbereitung muss stimmen, ich muss verletzungsfrei bleiben, die äußeren Bedingungen müssen ideal sein.
Will heißen, der deutsche Rekord ist vorerst kein konkretes Ziel?
Julian Reus:
Dazu muss einfach zu viel zusammen kommen. Ich glaube, so ein Rekord passiert einfach. Ich will mit Spaß laufen, meine Lockerheit bewahren und nicht an irgendwelche Zeiten denken.
Haben Sie Ihre Trainingsinhalte nach Ende der letzten Saison grundlegend verändert, oder ist diese Leistungssteigerung vielmehr das Resultat kontinuierlicher, langfristiger Planung?
Julian Reus:
Natürlich stellen wir über die Jahre immer etwas im Training um. Ich würde sagen, dass wir mittlerweile bewusster und zielgerichteter trainieren. Die komplette Trainingsphilosophie haben wir deshalb aber nicht über den Haufen geworfen. Ich wusste, wenn ich gesund bin, kann ich schnell laufen. Außerdem bin ich die letzten anderthalb Jahre endlich einmal verletzungsfrei geblieben.
... nur noch eine knappe Zehntelsekunde bis zur magischen 10-Sekunden-Schallmauer! Sie wären erst der zweite weiße Sprinter nach Christoph Lemaitre, dem das gelänge.
Julian Reus:
(lacht) Das ist noch fast ein Meter, im Sprint eine Welt. Darüber mache ich mir absolut keine Gedanken.
Nun haben Sie nicht nur im Einzel überzeugt. Der Staffelrekord hatte sich nach Addition der vorher gelaufenen Einzelzeiten [Anm. Tobias Unger 10,20 sec.; Lucas Jakubczyk 10,22 sec.; Alexander Kosenkow 10,31 sec.] fast schon angekündigt. Am Ende wurde die alte Marke um 27 Hundertstelsekunden unterboten. Gibt das zusätzlich Motivation für London oder erhöht sich damit nur der Druck?
Julian Reus:
Druck verspüre ich absolut keinen. Es ist eher so, dass wir mit dieser enormen Steigerung gesehen haben, was wir im Idealfall erreichen können. Wenn wir am Ende mit 38,15 Sekunden Fünfter würden, wäre das eine genauso gute Leistung, wie mit 38,05 Sekunden eine Medaille zu holen. Wozu es dann reicht, müssen wir in London sehen. Klar ist, dass wir dort unsere beste Leistung abrufen müssen, um in diesen Bereich vorzustoßen.
Bei der EM in Helsinki waren Sie im diesem Jahr bereits mit der Staffel auf internationaler Bühne erfolgreich. Mit dem Rückenwind der Silbermedaille geht es nun nach London. Wie groß ist die Umstellung zwischen EM und Olympia?
Julian Reus:
Vor 60.000 Menschen zu laufen ist auf jeden Fall noch einmal etwas anderes. Da hört man keine Kommandos mehr. Durch das Flutlicht herrschen ganz andere Lichtverhältnisse, was gerade bei den Wechseln nicht immer ganz einfach ist. Das ist mit Helsinki nicht vergleichbar.
Am 10. August geht es für Sie und Ihre Staffelkollegen los. Dann stehen die Vorläufe über 4x100 Meter auf dem Programm. Wie sieht Ihre Vorbereitung bis dahin aus?
Julian Reus:
Am Samstag ging es zur Vorbereitung nach Kienbaum und am 6. August geht der Flieger. In London haben wir dann noch einmal ein abschließendes Staffeltraining. Dann sind es ohnehin nur noch vier Tage bis zur Staffel, in denen nicht mehr viel passieren wird.
Aleixo-Platini Menga [TSV Bayer 04 Leverkusen] hat Ihnen telefonisch seine Glückwünsche übermittelt. Für ihn ist nach seinem Kreuzbandriss in Helsinki die Saison beendet und der Traum von Olympia geplatzt. Was bedeutet das für einen Sportler?
Julian Reus:
Das ist natürlich unheimlich bitter für ihn. Es ist ehrenwert, wie er uns trotzdem aus der Ferne unterstützt, uns Nachrichten schreibt. Wir telefonieren sehr viel und ich bin mir sicher, wenn einer zurückkommt, dann ist das Platini, so wie ich ihn kennengelernt habe.
Olympia ist der Saisonhöhepunkt und soll auch Ihr Saisonhighlight werden. Was planen Sie danach? Urlaub oder erneute Rekordjagd?
Julian Reus:
Die Saison geht noch weiter bis zum ISTAF. Bis dahin werde ich auch noch einige Wettkämpfe laufen, bei denen dann allerdings der Spaß im Vordergrund stehen wird. Nach London wird sich ohnehin die Frage stellen, wie es um die mentale Fitness bestellt ist, nach einem Jahr mit EM und Olympia.