| Interview

Julian Reus: "Ich will um die Medaillen mitlaufen“

Einen schnelleren Menschen auf zwei Beinen gibt es in Deutschland nicht. Gab es noch nie. Mit 10,01 Sekunden über 100 Meter und 6,52 Sekunden über 60 Meter in der Halle hält Julian Reus die deutschen Rekorde im Kurzsprint. Wir haben den 30-Jährigen in Erfurt getroffen und ihn zur magischen 10-Sekunden-Marke und seinen Zielen für die EM im August in Berlin befragt.
Paul Seidenberg

Mit 10,01 Sekunden halten Sie seit 2016 den deutschen Rekord über 100 Meter. Wie wichtig ist es Ihnen, in Ihrer Karriere noch die 10-Sekunden-Marke zu knacken?

Julian Reus:

Wichtig ist für mich zu wissen, dass es machbar ist. Aufgrund unterschiedlicher biomechanischer Auswertungen meiner Wettkämpfe der vergangenen Jahre weiß ich, dass es möglich ist. Allerdings hat es für mich nicht oberste Priorität, das in meiner Karriere zu schaffen. Ich weiß mittlerweile genau, dass neben der Form, meiner Gesundheit, einer optimalen Wettkampf- und Trainingsvorbereitung eben auch äußere Faktoren wichtig sind, die ich nicht beeinflussen kann.

Welche Faktoren sind das?

Julian Reus:

Wetter, Wind, Konkurrenz und Tagesform spielen eine große Rolle. Das kann am Ende entscheidend sein, wenn man um Hundertstel kämpft. Aber trotzdem möchte ich mich nicht in Abhängigkeit von solchen Bedingungen begeben. Meine Aufgabe ist es, mental und körperlich bereit zu sein, wenn dieser Tag X mit optimalen Bedingungen da ist. Dafür habe ich die letzten Jahre hart gearbeitet.

Gibt es noch Stellschrauben, die Sie beeinflussen können?

Julian Reus:

Ich glaube, es gab schon Läufe, in denen die 9,99 Sekunden möglich gewesen wären. Entscheidend ist, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, indem man im Training gut arbeitet und versucht an den Feinheiten zu feilen. Allerdings sind zwei Hundertstel so ein Wimpernschlag, dass ich nicht sagen kann, ich trainiere jetzt einfach ein bisschen mehr oder stemme größere Gewichte im Kraftraum. So einfach ist das nicht. Ich muss meinen Körper pflegen und jeden Tag im Training alles geben. Ab einem gewissen Moment hat man es vielleicht auch nicht mehr komplett selbst in der Hand.

Aber man versucht doch ständig besser zu werden…

Julian Reus:

… stimmt, aber auf meinem Niveau kann ich nicht mehr wie vor ein paar Jahren einfach den Umfang herunterschrauben, um die Intensität zu erhöhen. Schließlich ist eine höhere Intensität im Training mit der Gefahr verbunden, sich zu verletzten. Momentan achten wir also sehr genau darauf, ein optimales Verhältnis zwischen Belastung und Entlastung zu finden. Die bewusste Belastungssteuerung im Training und den Wettkämpfen ist der Punkt, an dem wir aktuell am meisten arbeiten, um die beste Leistung im richtigen Moment bringen zu können.

Macht man auch als erfahrener Leistungssportler noch Fehler im Training?

Julian Reus:

Da hat uns die vergangene Hallensaison die Augen geöffnet. Im Winter habe ich sehr intensiv und viel trainiert und plötzlich ging im Dezember nichts mehr. Das hat meinem Trainer Gerhard Jäger und mir gezeigt, dass man hinsichtlich der Trainingsintensität nicht immer noch eine Schippe drauflegen kann. Es ist im Leistungssport immer ein sehr schmaler Grat.

Wie hat sich Ihr Training im Verlauf der Karriere verändert?

Julian Reus:

In jedem Jahr ändert man natürlich gewisse Dinge, aber das sind dann vielleicht nur noch 5 bis 10 Prozent des Trainings. Vor allem ist mein Krafttraining noch spezifischer geworden. Wir steuern noch genauer die Muskulatur an, die ich zum Sprinten brauche. Man könnte sagen, die Schwächen des Körpers stärken und insgesamt mehr Wert auf Qualität als auf Quantität im Training legen.

Was hilft Ihnen, über einen längeren Zeitraum verletzungsfrei zu bleiben?


Julian Reus:

Pausen und Urlaub! Das ist im Leistungssport generell das Wichtigste, da man im Spitzensport wirklich jeden Tag 100 Prozent geben muss. Wenn man da mal eine Woche hat, die nicht so gut läuft, hat das schon extremen Einfluss. Deswegen sind die Pausen so wichtig, obwohl mir das persönlich schwerfällt. Ich habe mir meine Leistung über hartes Training erarbeitet und denke immer, dass mich eine längere Pause zurückwirft. Aber Auszeiten sind elementar, um eine Saison zu verarbeiten und danach mental und körperlich gestärkt zurückzukommen. Und die wöchentliche Pflege durch meinen Physiotherapeuten Torsten Rocktäschel ist Gold wert.

Fragen Sie sich manchmal, ob Sie Ihrem Körper zu viel abverlangen?


Julian Reus:

Ich frage mich eher, ob ich dem Körper vielleicht noch mehr abverlangen könnte, weil ich das Maximale aus ihm herausholen möchte.

Neben dem Leistungssport Haben Sie 2015 einen Studiengang Sport und Marketing abgeschlossen. Ausgleich zum Sport oder Vorsorge für die Zeit nach der Karriere?


Julian Reus:

Reine Vorsorge! Zwar hat mein Bachelor-Studiengang wegen des Trainings und den Wettkämpfen 15 Semester gedauert (lacht), aber ich bin froh, das Studium abgeschlossen zu haben. Die Sicherheit zu haben, nach dem Sport direkt in einen anderen Beruf einsteigen zu können, ist mir sehr wichtig.

Welche Ziele haben Sie sich für die kommende Leichtathletik-EM gesetzt?


Julian Reus:

Erstmal muss ich mich noch qualifizieren. Die EM-Norm habe ich mit 10,15 Sekunden vergangenes Wochenende in Weinheim zwar unterboten, aber die Entscheidung fällt bei der DM in Nürnberg. Die erste Saisonhälfte war nicht gut bei mir. Eine Stressreaktion an der Knochenhaut hat mich über 100 intensive Läufe, also die Hälfte der geplanten Läufe, in der Vorbereitung gekostet. Zuletzt kamen Probleme mit dem Oberschenkel hinzu. Jetzt konnte ich aber gut trainieren. Wenn ich in den nächsten Wochen schmerzfrei bleibe, bin ich davon überzeugt, die Chance zu haben, über 100 oder 200 Meter ins EM-Finale zu laufen. Außerdem haben die letzten Jahre gezeigt, dass im Finale die Karten komplett neu gemischt werden und von einer Medaille bi zu Platz acht alles drin ist. Ich will bereit sein, was immer dort passieren mag.

Ist die EM aufgrund der größeren Erfolgsaussichten für Sie interessanter als eine Weltmeisterschaft?


Julian Reus:

Ganz klar! Die Chancen sind einfach deutlich höher und es macht definitiv mehr Spaß mit größeren Aussichten auf Erfolg an so eine Meisterschaft heranzugehen.

Mit den größten Aussichten in der Staffel?


Julian Reus:

Absolut, wir haben 2010, 2012, 2014 und 2016 jeweils eine Medaille bei den Europameisterschaften gewonnen und sind zweimal WM-Vierter geworden, weswegen das Ziel ganz klar ist: Ich will in Berlin in der Staffel um eine Medaille mitlaufen.

Warum haben Sie sich als Jugendlicher für das Sprinten entschieden?


Julian Reus:

Dort hatte ich einfach das größere Talent im Vergleich zu anderen Disziplinen. Springen und Hürdenlaufen konnte ich auch ganz gut, aber im Sprint war ich besser. Ausdauer ging damals schon gar nicht… (lacht)

Es ging also weniger darum, was Spaß macht, sondern was Erfolg bringt?


Julian Reus:

Also Ausdauer hat mir jedenfalls keinen Spaß gemacht, Weitsprung und Hürdensprint schon. In der U18 stand ich vor der Frage, ob ich mich über 100 Meter oder im Hürdensprint qualifizieren will. Mein damaliger und jetziger Trainer hat dann die Entscheidung getroffen, nur noch die 100 Meter zu trainieren. Das fiel mir damals etwas schwer, ich mochte die Hürden, aber als dann die Erfolge im Sprint kamen, habe ich dem nicht mehr lange nachgetrauert.

Waren Sie in der Jugend immer vorne dabei?


Julian Reus:

Ganz früh vielleicht nicht, aber ich habe dann in jedem Jugendjahr große Leistungssprünge gemacht, so bin ich mit 19 Jahren dann U20-Europameister geworden. Danach kam ich in die Sportfördergruppe der Bundeswehr, sodass ich den Sport auf einer sehr professionellen Ebene durchführen konnte.

Ab wann waren Sie sich sicher, dass Sie Profisportler werden wollen?


Julian Reus:

Nach meinem Titel bei der Junioren-EM und meiner Steigerung auf 10,28 Sekunden durfte ich bei der WM in der 4x100-Meter-Staffel mitlaufen. Da wurde mir klar, das will ich die nächsten Jahre machen. Schließlich haben nicht viele Menschen das Glück, ihre absolute Leidenschaft für einen gewissen Zeitraum zum Beruf zu machen. Das schätze ich sehr!

Gibt es Tage, an denen Sie mal nicht auf Ihre Ernährung und Ihren Körper achten?


Julian Reus:

Nur wenige. 340 Tage im Jahr ist das Leben 24 Stunden nach dem Leistungssport ausgerichtet. Ich versuche, früh zu schlafen, wenig Alkohol zu trinken und nicht am Samstag vier Stunden shoppen zu gehen. In fast jeder Lebenssituation ist der Sport also im Hinterkopf, ausgenommen in den vier Wochen Urlaub oder an den ein, zwei Tagen nach einem sehr wichtigen Wettkampf.

Als Leichtathlet stehen Sie nicht so sehr in der Öffentlichkeit wie beispielsweise ein Fußballprofi: Ein Vorteil oder ein Nachteil?


Julian Reus:

Das sehe ich als großen Vorteil, denn ein Fußballprofi auf Top-Niveau hat keine freie Minute mehr und diese Freiheit, die ich habe, möchte ich auf keinen Fall einbüßen. Ich bin froh, wie es ist, letztendlich mache ich meinen Sport vor allem aus Eigenmotivation, deshalb brauche ich die Aufmerksamkeit nicht so sehr.

Sie sind 1,76 Meter groß. Weltrekordler Usain Bolt ist 1,95 Meter. Ist Ihre Größe ein Nachteil im Sprint?


Julian Reus:

Als kleinerer Sprinter hat man leichte Vorteile in der Start und Beschleunigungsphase. Usain Bolt war kein besonders guter Starter, aber in Sachen Höchstgeschwindigkeit den anderen voraus. Im Grunde hebt sich das am Ende aber auf. Meiner Meinung nach kann ein kleinerer Sprinter genauso schnell sein wie ein größerer Sprinter.

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