Karin Schließmann - Allein unter Fußgängern
Mitte Juli gab es viel Beifall für Karin Schließmann beim Abend-Waldlauf in Mörfelden. Mit ihrem Handbike ist sie zunächst alleine vorneweg gefahren, sie war vor den „Fußgängern“ - so nennen Rollstuhlfahrer gesunde, gehfähige Menschen - gestartet und absolvierte die zwei Stadionrunden als Solistin.
Es sollte keine unübersichtlichen Überholmanöver geben auf dem roten Kunststoff. Während der Solofahrt huschte ein Lächeln über das Gesicht von Karin Schließmann, „aber eigentlich mag ich es nicht, im Mittelpunkt zu stehen.“ Doch, sicherlich, meint sie später, „eine nette Geste“ sei dies schon gewesen.Die 51-Jährige aus Jügesheim ist eine Ausnahmeerscheinung im Rahmen des Main-Lauf-Cups, denn Karin Schließmann versucht als einzige behinderte Sportlerin, regelmäßig an der regionalen Laufserie teilzunehmen. Viele andere Handbiker sind in eigenen Rennserien am Start, auch bei größeren und kleineren Marathon-Veranstaltungen in ganz Deutschland, sie fahren auf geteerten Straßen. Karin Schließmann hat ganz bewusst einen anderen sportlichen Weg gewählt, sie will integriert sein, sich „nicht aus der Gesellschaft isolieren“.
Lapidare Absagen
In Mörfelden war sie bereits zum dritten in diesem Jahr beim Main-Lauf-Cup im Rennen, wie immer außerhalb der Wertung, wie bereits zuvor in Griesheim und beim Berkersheimer Dorflauf. Und wie immer hat sie bei den Veranstaltern vorher telefonisch durchgeläutet, ob ihre Teilnahme erwünscht sei.
Bisweilen verbietet sich ein Start auch automatisch, etwa weil der Kurs zu enge Kurven hat oder zu uneben ist. Doch es gibt auch ganz lapidare Absagen, beispielsweise von den Verantwortlichen des Hausener Volks-Waldlaufs an diesem Sonntag. „Ich habe zweimal angefragt, und zweimal wollte man mich nicht fahren lassen. Jetzt ist das Thema für mich durch. Vielleicht haben die Veranstalter ja Angst, dass noch andere Behinderte meinem Beispiel folgen könnten.“
Auf Asphalt schneller
Natürlich ist Karin Schließmann auf Asphalt schneller als jeder Läufer, bei den Waldvolksläufen aber hat sie mit erhöhtem Reibungs- und somit Rollwiderstand zu kämpfen. In Mörfelden benötigte der schnellste Läufer Andrew Topham 33:10 Minuten für 10 Kilometer, Karin Schließmann kam nach 38:49 Minuten ins Ziel. „Ich war mal wieder meine eigene Konkurrenz.“
Nach dem Rennen hat ihr Mann Günter das Sportgerät im Kofferraum des Autos verstaut, anschließend war Karin Schließmann auf Gehstützen unterwegs. Viele Main-Lauf-Cup-Starter kennen sie mittlerweile, doch das direkte Gespräch sucht selten jemand. Neulich sind Kinder auf die Diplom-Pädagogin zugekommen und haben voller Bewunderung gesagt, wie toll sie es finden, dass man im Handbike liegend so schnell fahren könne. „Seid froh, dass ihr euch damit nicht beschäftigen müsst“, hat Karin Schließmann geantwortet.
Früher auch im Marathon
Früher ist sie Turnerin, Schwimmerin und später Läuferin gewesen, die Marathondistanz brachte Karin Schließmann in 3:12 Stunden hinter sich. Dann kam jener verhängnisvolle Tag, der 24. August 1995; ein Tag, der ihr Leben veränderte. Ein Datum, wie sie sagt, „dass ich nie vergessen werde“.
Ins Krankenhaus kam die Hessin seinerzeit wegen einer eigentlich harmlosen Knieoperation, es gab den Verdacht auf einen Innenmeniskusschaden. „Doch irgendetwas ist wohl schief gelaufen“. Ein kurzer Satz, beinahe flüchtig dahin gesagt, doch er birgt unglaubliche Tragik. Der Operation folgte eine Notoperation, in der Folgezeit so genannte Narkosemobilisation, „viel Gewaltbehandlung“, wie es Karin Schließmann nennt. Und letztlich zwei Reha-Maßnahmen. „Anschließend konnte ich mich wieder ein Stück weit ohne Gehstützen bewegen.“
Hüftdysplasie
Das nächste Unglück ereignete sich im November 2000 auf dem Dienstweg zur Schulsozialarbeit. „Ich bin vom Fahrrad gefallen, auf das geschädigte Knie geknallt und habe mir eine Hüfte ausgekugelt.“ Seither leidet Karin Schließmann an Hüftdysplasie, einer zunehmenden Fehlbildung, und in den Knien an Arthrofibrose, überaus schmerzhaften Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit. „Ich habe geheult nach diesem Fahrradunfall, war völlig down und hatte keine Hoffnung mehr.“
Karin Schließmann war drei Monate in psychotherapeutischer Behandlung, schaffte es nicht einmal mehr, ihren Mann zu Wettkämpfen zu begleiten. Doch dann siegte ihr Bewegungsdrang, und nachdem sie im Jahr 2003 in Münster (Westfalen) erstmals Handbiker gesehen hatte, stieg sie im Winter 2004/2005 gleichfalls in die Szene ein.
"Dickkopf"
Karin Schließmann ist mittlerweile Frührentnerin und hat nach eigener Einschätzung „einen Dickkopf“. Beim Arque-Lauf fiel sie im November 2007 mit ihrem Sportgerät eine Böschung herunter, brach sich dabei Schien- und Wadenbein, fuhr aber nach geglückter Bergung noch 37 Kilometer weit bis nach Mainz. „Zum Arzt gegangen bin ich dann am nächsten Tag.“ Aus gutem Grund, wie sie sagt, ihr Vertrauen in Mediziner sei restlos aufgebraucht.