Christina Obergföll - Im Jahr eins danach
Auf den Tag genau ein Jahr ist es her. Damals hat leichtathletik.de kurz vor der WM in Helsinki eine Athletin vorgestellt, die für die Titelkämpfe in Finnland nur die wenigsten auf der Rechnung hatten. Dort wurde Christina Obergföll auf einen Schlag zum gefragten Speerwurf-Ass und jenes Portrait zum frequentierten Rechercheartikel. Doch was hat sich seither in zwölf Monaten verändert?
Christina Obergföll, selbstbewusst und erfrischend (Foto: Chai)
Heute weiß Christina Obergföll, wo sie steht und meldet ganz konkret und klar formuliert Ansprüche an für die Titelkämpfe in Göteborg (Schweden; 7. bis 13. August). Beim Stichwort EM klopft sie selbstbewusst auf den Tisch und sagt: "Medaille!" Eine Frau, ein Wort. Das Selbstvertrauen ist ihr anzusehen. Aber das ist nicht neu. Ganz im Gegenteil.Selbstbewusst, zu ein paar knackigen Ansagen bereit und vor allem kampfeslustig war sie auch im letzten Jahr. Doch bestenfalls als chancenreiche Außenseiterin, vor allem Szenebeobachtern ein Begriff, trat sie damals die Reise nach Helsinki an. Mit WM-Silber, einem 70-Meter-Wurf und dem Europarekord im Gepäck kam sie zurück. "Damals habe ich zwei Nächte gar nicht geschlafen", erinnert sie sich. Ein riesengroßes, nicht zu ahnendes öffentliches Interesse brach in den ersten Tagen über sie herein. "Das war heftig."
Keine Fußballstars
Auch jetzt ist Christina Obergföll eine der gefragtesten deutschen Leichtathletinnen. Auf der Suche nach interessanten Typen ist sie eine beliebte Anlaufstation. Schließlich hat sie was zu sagen. Fünf bis zehn Medienanfragen von den zum Teil renommiertesten Redaktionen bekommt sie pro Woche, nur vereinzelte waren es früher. "Ich fühle mich damit aber nicht überfordert. Das belastet mich nicht", sagt sie und unterstreicht, dass sie die Aufmerksamkeit auch ein Stück weit genießt. "Wir sind ja schließlich alle keine Fußballstars."
Die Kicker füllen nicht nur die Gazetten, sondern verdienen auch eine Menge Geld. Ein vergleichsweise kleiner, aber für sie nicht unbedeutender Packen Scheine ist Christina Obergföll am Freitagabend beim Bayer-Meeting in Leverkusen durch die Finger gerutscht, als sie mit dem knapp verpassten Sieg ihren Anteil am 50.000-Euro-Jackpot des DKB-Cups verspielte. Ein Ärgernis für die Blondine allemal, das sie auch noch ein paar Stunden nach dem Wettkampf wurmte.
Luxus bei der Wettkampfauswahl
Geldverdienen ist in der Leichtathletik auch für eine Vize-Weltmeisterin kein Selbstläufer, Privatsponsoren stehen nicht wirklich Schlange. Aber zumindest hat Christina Obergföll jetzt einen gewissen Luxus, sich ihre Wettkämpfe praktisch nach Belieben aussuchen zu können. "Ich gehe zu den Meetings, zu denen ich will." Den meisten anderen DLV-Athleten hat sie damit etwas voraus, um internationale Wettkampfgelegenheiten muss sie sich keine Sorgen machen. Damit steigt auch die Börse ein wenig. "Es lohnt sich nun ein bisschen mehr", sagt Christina Obergföll angesichts ihres erworbenen Status' in der Speerwurf-Welt.
Die 1,75 Meter große Athletin mag dabei auch die große Bühne, die ihr nun in der Leichtathletik bereitet wird. "Ich stehe gerne im Mittelpunkt", gibt sie unumwunden zu. Starke Konkurrenz und viel Publikum, das seien die Antriebsfedern. "Ich bin eine unheimlich starke Wettkämpferin", sagt sie und verdeutlicht, dass sie den Weg zum Psychologen angesichts ihrer neuen Rolle nicht nötig hat.
Der 70-Meter-Druck
Den 70-Meter-Druck habe sie aber deutlich gespürt. Ein Druck, der sie lange beschäftigte, bereits in Helsinki sinnierte sie über die Erwartungshaltung, der sie sich nun gegenüber sehen könnte. Es ist aber eine Erwartungshaltung, deren Bedeutung sich vor allem in ihrem Kopf entscheidet. Das hat Christina Obergföll inzwischen erkannt und verarbeitet. Die immer wiederkehrende 70-Meter-Frage, die mitunter schon einmal nerven kann, beantwortet sie mit einem "Ich bin unheimlich stolz darauf" als Verweis auf das Geleistete.
Wenn sie bei Wettkämpfen ganz groß als Europarekordhalterin vorgestellt wird, dann hört sie aber mittlerweile gerne mal weg. "Damit musste ich erst klarkommen", erklärt sie und fragt: "Warum nicht einfach deutsche Rekordhalterin?" Eine Nummer kleiner wäre manchmal wohl ganz gut und immer noch groß genug, dann würde sich der Balast nicht ganz so schwer anfühlen. Die Weitenjägerin ist schließlich bodenständig geblieben und mag es auch so.
Kein Ausrutscher
Die 24-Jährige hat es aber gut verstanden, mit den Wettkämpfen in diesem Sommer viel von diesem Balast abzuwerfen. "Athen war für mich mit fast 67 Metern ganz wichtig. Das war die Bestätigung, dass die 70 Meter kein Ausrutscher waren." Dort hatte sie am 3. Juli 66,91 Meter erzielt, mit denen sie immer noch die Weltjahresbestenliste anführt.
"Ich bin auch froh, dass die letzten Wettkämpfe so stabil waren." 64,07 Meter in Ulm und 64,97 Meter nun in Leverkusen offenbaren eine sehr gute Form. "Ich bin jetzt topfit", gibt sie sich überzeugt. Ihr Niveau der Papierform nach ist damit allemal um zwei, drei Meter höher als vor einem Jahr zu diesem Zeitpunkt. Auf die jüngst vielen Fragen nach einer gewissen Instabilität in ihren Leistungen hat sie nun eine sportliche Antwort gefunden: "Damit bin ich erstmal fein raus."
Das Duell bringt Veränderung
Immer wieder auf's Neue beantwortet wird dagegen momentan die Frage, wer denn nun von den beiden deutschen Top-Speerwerferinnen die gerade bessere sei. Christina Obergföll? Steffi Nerius? Die Leverkusenerin ist in diesem Monat momentan mit 3:1 in Führung gegangen. Doch es ist ein Duell, das hierzulande die Fans begeistert und die Medien mobilisiert.
"Da hat sich viel verändert", stellt Christina Obergföll durchaus zufrieden fest. "Steffi und ich ziehen momentan das Publikum richtig mit und sorgen für Spannung. Jetzt geht gar nichts mehr unter, wir werden bei jedem Versuch angekündigt. Die Medien sind heiß, das merken wir. Bei den Deutschen Meisterschaften wurde soviel im Fernsehen gezeigt wie noch nie. Die Leute wollen dieses Duell sehen." Frauen-Speerwurf ist "in" der deutschen Leichtathletik, keine Frage.
Jägerin und Gejagte
Das Verhältnis zwischen ihr und Steffi Nerius scheint nun von gegenseitigem Respekt geprägt. Das unterstreichen Sätze wie "Steffi hat den Sieg verdient, aber ich bin trotzdem nicht unglücklich" oder "Früher habe ich Steffi gejagt, jetzt jagen wir uns gegenseitig". Man braucht sich gewissermaßen dieser Tage.
Als Jägerin und Gejagte hat Christina Obergföll in den letzten zwölf Monaten für frischen Wind gesorgt und wirkt dabei vor allem immer noch erfrischend. Ganz besonders, wenn sie ihre Aussagen mit einem Klopfen auf den Tisch unterstreicht und etwa meint: "Wenn's wichtig ist, bin ich da." Da braucht es keine Erklärung, keinen Nachsatz. Ein Statement spricht für sich.
"Gar nichts hat sich verändert…"
Ganz wichtig wird es schon bald. Am 13. August soll im Ullevi-Stadion wieder eine große Tat folgen, damit wir uns am 29. Juli 2007 an dieser Stelle wieder fragen können: Was hat sich verändert im Jahr danach?
Vielleicht kann Christina Obergföll auch dann wieder, die Relationen eines Sportlerlebens zurechtrückend, sagen: "Ich habe jetzt eine eigene, tolle Wohnung, aber eigentlich hat sich gar nicht viel verändert". Und ihr Erfolgscoach Werner Daniels könnte ergänzen: "Gar nichts hat sich verändert…" Wie einfach kann doch das Leben einer Vize-Weltmeisterin, deutschen und auch Europarekordhalterin sein.
29.07.2005: Christina Obergföll - Mit Angriffslust zur WM