„Leistung optimal entwickeln“
Läufer in der Krise? Die Diskussion um Deutschlands Athleten auf Bahn und Straße schwelt schon seit einigen Jahren. Fest steht, dass die DLV-Sprinter und -Läufer im Schatten der Werfer und Springer stehen, die seit Jahren deutsche Erfolge bei globalen Titelkämpfen garantieren. Im Interview analysieren DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen und sein für die Bahn-Disziplinen zuständiger Cheftrainer Idriss Gonschinska, warum das so ist, und zeigen Wege aus der Talsohle.

Idriss Gonschinska:
Das gilt aber nicht nur für die Deutschen. Angesichts der afrikanischen Dominanz auf den Langstrecken und der karibisch-amerikanischen Überlegenheit im Sprint ist eine EM für alle Europäer in diesen Disziplinen eine Riesen-Chance. Dennoch sehe ich entgegen vielen Aussagen in den Medien auch einige junge, deutsche Läufer, die sich progressiv entwickeln und das Potenzial haben, langfristig den Anschluss an die Weltspitze herzustellen.
Sind darunter schon Kandidaten für die Finals auf der Bahn im Olympiastadion von London? Idriss Gonschinska:
Wenn ich jetzt Namen nennen würde, könnte der Druck für den einen oder anderen zu groß werden. Aber je nach den Rennverläufen in London ist das auf den Mittelstrecken oder im Hindernislauf nicht unmöglich. Wir arbeiten jedenfalls daran, die Laufdisziplinen kontinuierlich und langfristig zu entwickeln. Was uns derzeit aber fehlt, ist ein Jahrhunderttalent wie Christophe Lemaitre oder Mo Farah, die für Frankreich und Großbritannien in die Phalanx der karibischen Sprinter und der Afrikaner auf der Langstrecke eingebrochen sind. Dass es die bei uns auch geben kann, haben zuletzt beispielsweise Nils Schumann und Nico Motchebon als Olympiasieger und Olympia-Fünfter über 800 Meter und Dieter Baumann als Olympiasieger über 5.000 Meter gezeigt. Auch Ingo Schultz als 400-Meter-Vizeweltmeister und natürlich Marathonläuferin Irina Mikitenko gehören in diese Kategorie.
Welche der aktuellen Athleten haben denn Ihrer Meinung nach das größte Potenzial auf den längeren Strecken?
Idriss Gonschinska:
Denise Krebs hat über 1.500 Meter beispielsweise mit harter Arbeit große Fortschritte gemacht. Corinna Harrer überzeugt durch ihr großes Leistungsspektrum von 400 über 10.000 Meter bis zum Crosslauf, was übrigens einem internationalen Trend entspricht: Erfolgreiche Läufer konzentrieren sich nicht frühzeitig auf eine Strecke, sondern entwickeln ihre Fähigkeiten auf den unterschiedlichsten Distanzen. Und auch Elina und Diana Sujew sind 2011 über 1.500 Meter um 4:10 Minuten gelaufen, was einen deutlichen Fortschritt darstellt. Natürlich gehört auch Sören Ludolph als schnellster deutscher 800-Meter-Läufer seit 2005 dazu und über die Hindernisse Gesa Felicitas Krause, Jana Sussmann und Steffen Uliczka. Und immerhin hat ja Carsten Schlangen 2010 EM-Silber über 1.500 Meter gewonnen und wurde Vierter der Hallen-Europameisterschaften 2011.
Die sind aber alle noch weit weg von Medaillen bei globalen Höhepunkten... Thomas Kurschilgen:
Medaillen können bei einer sachgerechten Betrachtung der Ausgangssituation grundsätzlich nicht der alleinige Maßstab für die Bewertung von Disziplinen sein. In der Leichtathletik neigen wir sehr häufig dazu, aus der Retroperspektive zu argumentieren. Nach dem Motto: Wir hatten einen Dieter Baumann, einen Harald Schmid, einen Nils Schumann. Dass diese Athleten für Erfolge in verschiedenen Jahrzehnten stehen und Ausnahmeathleten in ihren Disziplinen waren, wird dabei oft vergessen.
Dennoch ist nicht wegzudiskutieren, dass dem DLV derzeit solche Athleten im Laufbereich fehlen, oder?
Thomas Kurschilgen:
Für uns sind auch junge Athleten wie 400-Meter-Hürdenläufer Georg Fleischhauer, wie Hürdensprinterin Cindy Roleder oder natürlich Hindernisläuferin Gesa Felicitas Krause erfolgreich, die bei der WM in Daegu die Plätze 13, 9 und 12 belegt haben. Nicht zu vergessen die erfolgreichen EM-Teilnehmer von Barcelona, wie Verena Sailer, Carolin Nytra, Carsten Schlangen, Steffen Uliczka oder Sabrina Mockenhaupt, um nur einige zu nennen. Das heißt aber nicht, dass wir nicht den Anspruch an uns richten, auch in den Läufen wieder Endkampfplatzierungen und Medaillen bei globalen Meisterschaften anzustreben. Die letzte internationale Einzelmedaille in einer Laufdisziplin bei Weltmeisterschaften liegt im Übrigen mehr als zehn Jahre zurück: 2001 holte Ingo Schultz in Edmonton das Überraschungssilber über 400 Meter.
Und was unternehmen Sie, dass sich die Fans bald wieder über Überraschungen wie damals freuen können?
Idriss Gonschinska:
Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass das Leistungsniveau auf den Langstrecken weltweit so stark angestiegen ist, dass auch ein Dieter Baumann heute Schwierigkeiten hätte, den Anschluss zu halten. Dennoch müssen wir uns überlegen, wie wir die vorhandenen Athleten im Laufbereich so fördern, dass sie ihre Leistung optimal entwickeln. Der erste Schritt sind vordere Plätze bei U20- und U23-Titelkämpfen. Wir müssen Talenten frühzeitig aufzeigen, wie sie berufliche Entwicklung und Hochleistungssport vereinbaren können. Es wird auch darauf ankommen, Athleten mit der notwendigen Grundschnelligkeit auf die richtige Strecke zu führen. Das heißt: Aus 200-Meter-Sprintern müssen verstärkt 400-Meter-Läufer werden, und so mancher Viertelmeiler sollte besser auf die 800 Meter wechseln.
Dafür ist Georg Fleischhauer ja ein gutes Beispiel. Er hat als Hürdensprinter angefangen und 2011 das WM-Halbfinale von Daegu über 400 Meter Hürden erreicht... Idriss Gonschinska:
Als ehemaliger Hürdensprinter hat er noch große Reserven bei der Ausdauer, ist aber technisch so gut und so schnell, dass er 2011 mit 48,72 Sekunden die schnellste Zeit eines Deutschen über 400 Meter Hürden seit vielen Jahren erzielt hat.
Schauen Sie auch in andere Lauf-Nationen, um Trends zu erkennen, mit denen dort erfolgreich gearbeitet wird?
Idriss Gonschinska:
Natürlich. Als Vorbild könnte vor allem das US-amerikanische Projekt in Portland dienen, wo die besten Läufer bei Alberto Salazar zusammen unter fantastischen Bedingungen trainieren und hochmoderne Technologien nutzen. Dazu gehören Häuser, in denen Höhenbedingungen simuliert werden, oder Laufbänder, mit denen der passive Bewegungsapparat durch den Aufbau im Wasser geschont wird. Das alles wird durch das Sponsoring von Nike ermöglicht. So etwas Ähnliches in Deutschland zu installieren, wäre großartig, ist aber natürlich nicht einfach. Es wäre schon gut, wenn der eine oder andere deutsche Läufer in das US-Projekt integriert werden könnte. So wie Englands 5.000-Meter-Weltmeister Mo Farah, der auch in Portland trainiert.
Gibt es auch ganz neue Trends, was das Lauftraining betrifft?
Idriss Gonschinska:
Wir analysieren ständig, welche Trainingsmittel wie und wann eingesetzt werden, und sind dabei zu einem wichtigen Ergebnis gekommen: Bei der Entwicklung von Lauftalenten kommt es auf eine möglichst große Vielfalt von Streckenlängen an, auf denen sie erfolgreich laufen können. Jedes Rennen, egal auf welcher Strecke, wird auf den letzten 25 Prozent der Distanz entschieden. Deshalb ist es für den Erfolg entscheidend, über Läufer zu verfügen, die sowohl schnell und spurtstark als auch ausdauernd sind. Und das lässt sich am besten entwickeln, wenn sich junge Athleten nicht zu früh auf eine Streckenlänge festlegen, sondern Rennen über die unterschiedlichsten Distanzen bestreiten und sich darauf im Training vorbereiten. Das ist auch ein Grund, warum wir verstärkt auf Trainingsmaßnahmen in großen Gruppen setzen, bei denen auch Langstreckler und Mittelstreckler gemeinsam laufen.
Also kommt es auch im Langstreckenlauf nicht nur auf die Zahl der Kilometer an, die Woche für Woche gelaufen wird?
Idriss Gonschinska:
Nein, dieses Kriterium ist nicht allein entscheidend. Es kommt natürlich auch auf die Intensitäten und deren Verhältnis zu den Streckenlängen an, die im Training bezogen auf die jeweiligen Dauerlauf- bzw. Tempolaufbereiche gelaufen werden. Auf allen Strecken orientieren wir uns an der angepeilten Renngeschwindigkeit. Die Gestaltung der Dauerläufe optimieren wir auf der Basis der Ergebnisse der individuellen Leistungsdiagnostikmaßnahmen. Neben ruhigen Dauerläufen werden folglich auch Tempodauerläufe sowie Tempowechseldauerläufe verstärkt im Training eingesetzt. Das ist ein internationaler Trend, den wir umsetzen. An dieser Stelle bieten wir den Athleten und Trainern in Zusammenarbeit mit den Leistungsdiagnostikern an den Olympiastützpunkten und dem Institut für angewandte Trainingswissenschaften in Leipzig verstärkt Orientierungen an.
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