Linda Stahl - Büffeln statt Olympia
Bittersüßer könnte sich ein sportliches Husarenstück kaum mehr anfühlen. Da wirft Linda Stahl am Mittwoch in Leverkusen eine neue Bestweite von 66,06 Metern, ist plötzlich die Nummer drei der Welt, doch die bevorstehenden Olympischen Spiele in Peking (China) werden trotzdem ohne die Leverkusener Speerwerferin stattfinden.
Die drei Olympia-Startplätze im deutschen Team sind seit dreieinhalb Wochen schon anderweitig vergeben und zwar ganz fest, an ihre Vereins- und Trainingskolleginnen Steffi Nerius und Katharina Molitor sowie natürlich an die Offenburgerin Christina Obergföll.„Es ist ganz schön bitter. So ist der Sport“, sagt Linda Stahl, die bisher eine Bestweite von 62,80 Metern hatte, ein bisschen traurig, ein bisschen lapidar in dem Bewusstsein, dass sie am 19. August nachts mit kleinen Augen vor dem Fernseher sitzen wird, um die Speerwurf-Ausscheidung in China zu verfolgen und dem deutschen Trio die Daumen zu drücken.
An Osaka erinnern
Sie weiß: „Ich glaube, es wird wehtun, sich das anzugucken. Ich werde mich aber an Osaka im letzten Jahr erinnern. Das ist dann wieder ein schönes Gefühl und es hält sich hoffentlich die Waage.“ In Japan war es nämlich so, dass die 22-Jährige als Achte ihre WM-Nominierung rechtfertigen konnte. Jetzt ist es anders herum. Linda Stahl hat eine Weltklasse-Leistung gebracht. Allerdings zu spät, so dass sie sich bei Olympia nicht beweisen kann. Eine ausgleichende Ungerechtigkeit?
Nein, denn es ist offensichtlich. Mit derlei Gedanken will sich die U23-Europameisterin nicht beschäftigen. Sie denkt und baut auf das, was da kommt. Immerhin ist sie noch eine Athletin, die ihre Zukunft vor sich hat.
„Ich freue mich jetzt auf die WM im nächsten Jahr in Berlin. Ich denke, etwas Schöneres als eine WM im eigenen Land gibt es nicht. Ich hoffe, dass ich gesund durchkomme und mir dann vielleicht sogar in Berlin wieder so ein Wurf rausrutscht“, sagt sie. Und Olympia gibt es ja auch wieder, 2012 auf der britischen Insel. „Klar ist auch London das große Ziel für die nächsten vier Jahre. Ich war erst letzte Woche dort und habe gut geworfen.“
Nur zwei Zentimeter vorbei
Linda Stahl ist in den letzten Wochen den von ihr für die Olympia-Qualifikation geforderten 60,50 Metern bis zum Stichtag zu den Deutschen Meisterschaften in Nürnberg vergeblich hinterher gejagt. Winzige zwei Zentimeter trennten sie zu diesem Zeitpunkt von der Erfüllung der Kriterien.
Ihre Erklärung dazu ist einfach wie einleuchtend zugleich: „Dieses Jahr fehlten mir ein bisschen das Selbstbewusstsein und die Lockerheit, nachdem ich im Winter mit Rückenproblemen nicht gesund durchgekommen war.“
Dass sie jetzt die 66 Meter übertroffen und damit eine Weite, die sie für die Weltspitze qualifiziert, angeboten hat, ist für sie „einfach wahnsinnig“. Doch auch da ist die Erklärung wiederum simpel und einleuchtend zugleich: „Ich habe mich schon bei Einwerfen super gefühlt und ich wusste, da geht was. Im letzten Versuch habe ich, als ich wusste, dass ich Zweite bin, einfach locker einen rausgelassen. Das hätte ich vielleicht vor den Deutschen Meisterschaften schon einmal machen sollen.“
Jetzt schon mittendrin
Linda Stahl, die sich nun zunächst einmal vor allem bei rund 62 Metern stabilisieren möchte, hat aber bereits jetzt ihre Rückschlüsse aus diesem Olympiasommer gezogen. „Bisher war es meine schwerste Saison. Ich hatte mehr Druck. Sonst war ich immer die Kleine, die die Großen gejagt hat. Diesmal war ich mit Katharina Molitor zusammen schon mittendrin.“
Lehrgeld habe sie bezahlen müssen. „Das passiert nächstes Jahr nicht noch einmal“, versichert sie und lässt ein Nahziel nicht außer Acht, das Mitte September noch lockt. Beim Weltfinale in Stuttgart will sie unbedingt dabei sein. „Ich werde versuchen, meine Form zu halten und ich hoffe, dass meine Punkte für die Qualifikation zum Weltfinale reichen.“
Allein in Leverkusen
Doch dafür, und auch das ist eine Pille, die geschluckt werden muss, gilt es erst einmal vier Wochen lang alleine zu trainieren, denn ihre Leverkusener Gruppe bricht eben ohne sie mit Trainer Helge Zöllkau zur Olympischen Mission nach Asien auf.
Daneben wird Linda Stahl, während die Olympischen Spiele laufen, vor allem eines tun. „Ich werde am Schreibtisch sitzen und für meine mündliche Physikumsprüfung lernen“, erklärt die Medizinstudentin, die in diesem Jahr viele Weichen in eine neue Richtung gestellt hat.
Vor allem, dass sie zum 1. Juni von Münster nach Leverkusen umgezogen ist und ab Herbst in Köln studieren kann, erleichtert ihr Vieles und bringt ihr neue Freiräume. „Die Jahre von 2006 bis 2008 waren für mich schon ziemlich schwierig. Ich bin immer von Münster nach Leverkusen zum Training gependelt, das hat mich sehr viel Kraft gekostet, sehr viele Nerven, sehr viel Schlaf.“
Drei Stunden mehr pro Tag
Das ist nun anders und zwar grundlegend. „Jetzt kann ich mehr zuhause lernen, muss nicht mehr fahren. Ich wohne 500 Meter Luftlinie vom Stadion. Nun gehe ich einfach auch häufiger zum Training, weil ich diese Zeit nicht mehr im Auto verbringe. Drei Stunden mehr am Tag zu haben, ist schon etwas komisch. Aber es ist schön, sich daran zu gewöhnen. Das ist schon sehr, sehr, sehr angenehm.“
Sie verbindet damit aber auch die Hoffnung auf mehr Ruhe, auf ein „halbwegs normales Studentenleben“, auf mehr Freizeit. Eine ganz wichtige Priorität bleibt natürlich: „Ich werde auf jeden Fall den Sport nicht vernachlässigen, denn ich werde angreifen nächstes Jahr.“
Diese Kampfansage steht, nach dem 66-Meter-Wurf von Leverkusen mehr denn je. Schließlich steht Linda Stahl jetzt unter dem Bayer-Kreuz auch ganz vorne in der Reihe der Speerwerferinnen, die sich um das Erbe von Europameisterin Steffi Nerius, die mit der WM in Berlin ihren Abschied geben könnte, bewerben.