Liu Xiang schockt ganz China
Chinas größte Leichtathletik-Hoffnung hat sich am Montagvormittag bei den Olympischen Spielen in Peking in Luft aufgelöst. Der Titelverteidiger über 110 Meter Hürden, Liu Xiang, warf verletzt die Flinte ins Korn, ehe sein Vorlauf unterwegs war. Damit enttäuschte er die 91.000 Zuschauer im vollbesetzten Nationalstadion, die ihn vergeblich anfeuerten.
Denn Liu Xiang, der sich in diesem Olympiajahr kaum gezeigt hatte und sich gezielt auf den Saisonhöhepunkt vorbereiten sollte, war trotz einer Achillessehnenentzündung in das „Vogelnest“ einmarschiert.Dabei konnte man schon vorher im Gesicht ablesen, dass es ihm nicht gut ging. Probieren wollte er es trotzdem. Sein Trainer Sun Haiping hatte bereits am Sonntag gewarnt, die Verletzung könnte die Leistungen des 25-Jährigen nachhaltig beeinträchtigen.
Sein Trikot holte er dann im Stadion erst spät aus seinem Rucksack. Nach einem ersten Fehlstart war Schluss. Liu Xiang humpelte der ersten Hürde entgegen, marschierte danach schnurstracks aus dem Innenraum und ließ verdutzte und fassungslose Zuschauer zurück. Binnen Minuten leerte sich die zuvor komplett gefüllte olympische Arena.
Verdutzte Gegner
Verdutzt waren auch seine Gegner. „Das ist hart für diese Olympischen Spiele“, sagte der Ex-Weltmeister Ladji Doucoure (Frankreich). „Ich kann es gar nicht glauben, das gibt’s doch gar nicht“, meinte der Brite Allan Scott.
Lius Trainer Sun Haiping brach kurze Zeit später vor der Weltpresse in Tränen aus. Auf die Frage, wie er sich fühle und was die erste Reaktion seines Schützlings gewesen sei, begann er vor 400 Journalisten und gut 35 Kamerateams im überfüllten Pressekonferenzraum bitterlich zu weinen.
Emotionale Fragen verboten
"Ich kann ihm nur ein Kompliment machen, dass er es trotz der Verletzung versucht hat. Liu hat geweint und war sehr deprimiert. Er hätte nicht aufgegeben, wenn es nicht unumgänglich gewesen wäre", sagte Sun Haiping. Er hatte Liu Xiang vor zwölf Jahren entdeckt. Die beiden verbindet wegen ihrer engen Zusammenarbeit eine Vater-Sohn-Beziehung.
Danach verbat Feng Shouyong, Direktor des Chinesischen Leichtathletik-Verbandes, emotionale Fragen: "Ich hoffe, sie können unsere Emotionen verstehen. Bitte keine Fragen mehr zu diesem Punkt." Das Problem sei eine Entzündung an der Achillessehne des rechten Fußes, erklärte er. Sie sei am Samstag plötzlich akut und beim Aufwärmen am Morgen unterträglich geworden. "Ich hoffe, dass alle verstehen: Es ging nicht."
Ausgeflogen
Das Leben des Leichtathleten Liu, dessen Vorname Xiang für "Fliegen" steht, glich seit dem Überraschungs-Coup vor vier Jahren dem eines Popstars. Sein Gesicht war vor den Spielen im ganzen Land zu sehen: auf Werbeplakaten für Sportschuhe, Cola, Autos und Nahrungsmittel. Sogar der umstrittene Zigaretten-Hersteller Baisha warb mit ihm. Das Magazin Forbes schätzte sein Einkommen 2007 auf 23,8 Millionen Dollar.
Bei einer Umfrage nach ihrem größten Traum hatte eine Million Chinesen gesagt, sie wünsche sich, Liu Xiang im Vogelnest zum Sieg fliegen zu sehen. Das Land fieberte jenen 13 Sekunden entgegen, in denen Liu Xiang am kommenden Donnerstag (21. August) ab 21.35 Uhr Ortszeit zu Gold holen sollte. Als ob dies nicht genug Druck gewesen wäre, ließen Staats- und Parteiführung Liu Xiang und seinen Trainer im Vorfeld wissen, dass ihre bisherigen Triumphe bei einem Misserfolg wertlos seien.
Einmalige Erfolge
Dabei sind sie einmalig in der chinesischen Leichtathletik. Liu Xiang war als erster Sportler aus dem Reich der Mitte zeitgleich Olympiasieger (2004), Weltmeister (2007) und Weltrekordler (2004 bis 2008; 12,88 sec). Ein chinesisches Unternehmen wollte seine Beine mit rund neun Millionen Euro versichern. Liu Xiang lehnte mit dem Hinweis ab, sie seien unbezahlbar.
In der Olympiavorbereitung deuteten sich dann Verletzungsprobleme an, nachdem der aus Shanghai stammende Athlet im März noch Hallen-Weltmeister geworden war. Ende Mai musste er wegen einer Zerrung der Oberschenkel-Muskulatur den Start beim Sportfest in New York (USA) absagen. Bis zu den Spielen bestritt er keinen Wettkampf mehr. "Diese Verletzung war komplett verheilt", versicherte Funktionär Feng Shouyong am Montag.
Wucherung am Knochen
Auch Gerüchte um Probleme an der Achillessehne gab es. Und Trainer Sun Haiping bestätigte, sie seien schon vor Jahren festgestellt worden. Sein Schützling habe am Übergang zur Ferse eine Wucherung am Knochen. "Und die ist zuletzt ziemlich groß geworden." Zu groß.
Ebenfalls verletzt kam in den Vorläufen mit dem US-Amerikaner Terrance Trammell ein weiterer Medaillenkandidat nicht ins Ziel. Einen guten Eindruck hinterließen in der ersten Runde Weltrekordler Dayron Robles (Kuba; 13,39 sec) und David Oliver (USA; 13,30 sec), die durch die Ausfälle nun leichteres Spiel haben sollten.
mit Material von Sport-Informations-Dienst
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