Äthiopien triumphiert wieder - jetzt in Paris
Der 28. Paris-Marathon war fest in afrikanischer Hand. Ambesse Tolossa, ein Außenseiter, rannte alle Prognosen über den Haufen und gewann diesen Klassiker nach einem fulminanten Finale in 2:08:56 Stunden. Chancenlos waren die beiden Kenianer Raymond Kipkoech (2:10:08 h), der eigentliche Favorit bei diesem sportlichen Spektakel, und Paul Biwott (2:10:27 h).

Ambesse Tolossa war der Mann, der sich feiern ließ (Foto: Hörnemann)
Salina Kosgei rettete die Ehre Kenias, denn als Debütantin trug sie sich auf Anhieb in die Siegerliste ein. Mit 2:24:32 Stunden gelang ihr die drittbeste Zeit, die je in Paris erzielt wurde. Schneller war nur die Belgierin Marleen Renders bei ihren Erfolgen anno 2000 (2:23:43 h) und 2002 (2:23:05 h).Die Hubschrauber kreisten unablässig über der "Champs Élysées". An Bord waren die Kameraleute des Fernsehsenders France 3", der dieses Szenario alljährlich live in Frankreich überträgt. Aus luftiger Höhe, mit überdimensionalen Teleobjektiven eingefangen, wirkten die vielen Zuschauer von oben wie ein riesig langer Wurm, der sich links und rechts entlang der breiten Startgeraden schlängelte.
Große Erwartungen
Der Regen, der am frühen Morgen noch hernieder geprasselt war, hatte sich verzogen. Die Erwartungen waren groß. Riesengroß. Vereinzelt segelten einige dunkle Wölkchen über den Triumphbogen, eines von vielen Monumenten mitten in Paris. Windig war es allerdings geworden. Joel Lainé, der Renndirektor, blickte ungeduldig auf die Uhr. Nur noch wenige Sekunden bis zum Start. Nervös tänzelte das Riesenfeld auf der Stelle. 34.500 Teilnehmer aus 80 Nationen, darunter 1363 Deutsche, hatten ihre Meldung abgegeben. So viel wie noch nie! Pünktlich um 8.45 Uhr krachte endlich der Schuss in den Himmel, zerriss mit lautem Getöse die Stille und eröffnete das ewig gleiche Duell: Afrika gegen den Rest der Läufer-Welt.
Das Feld stürmte wild entschlossen los. Vorneweg die Hasen, drahtige Burschen, die für ein flottes Tempo sorgen sollten. Michael Rotich, ein Kenianer, steigerte den Streckenrekord vor einem Jahr auf 2:06:33 Stunden. Benoît Zwierzchlewski, Publikumsliebling auf Frankreichs Straßen, folgte damals mit minimalem Rückstand von drei Sekunden und egalisierte die europäische Bestleistung des Portugiesen Antonio Pinto, der anno 2000 in London eine 2:06:36 auf den Asphalt gezaubert hatte.
Leichtfüßige Äthiopier
Natürlich träumte Joel Lainé auch bei der 28. Auflage von einem ähnlichen Husarenstreich. Als die "Pacemaker" den "Place de la Concorde" umkurvten, hatten sich die Favoriten bereits einträchtig hinter ihnen eingereiht. Mittendrin im dichten Führungspulk leuchtete das rot-weiße Trikot von Raymond Kipkoech aus Kenia, dem sie die Startnummer 1 anvertraut hatten, weil er die beste Vorleistung (2:06:47 h in Berlin 2002) vorweisen konnte.
Flankiert wurde er von seinen Landsleuten Robert Cheruiyot, Henry Tarus und dem Debütanten Paul Biwott. Leichten Schrittes folgte ihnen ein Trio aus Äthiopien, angeführt von Ashebir Demissie, Gashaw Melese und Ambesse Tolossa, die ihren großen Vorbildern Haile Gebrselassie und Kenenisa Bekele nacheifern und die Kenianer schlagen wollten. Nicht zu vergessen Marilson Dos Santos, "the boy from brazil", 2003 Erster beim renommierten Silvesterlauf von Sao Paulo, der in Paris seinen Einstand über stramme 42,195 Kilometer gab.
Die erste Hälfte passierte die mehrköpfige Spitzengruppe dank vorzüglicher Hasen-Arbeit in 1:03:33 Stunden. Laurent Boquillet, der für die Auswahl der Elite-Läufer verantwortlich ist, verfolgte das Geschehen auf dem Sozius eines Motorrads. Alsbald fielen jedoch immer mehr Läufer ab, bis schließlich nur noch zwei übrig blieben: Raymond Kipkoech und Ambesse Tolossa, der den stärkeren Eindruck erweckte.
Energiereserven
Der Schein sollte nicht trügen. Ambesse Tolossa, 26 Jahre jung, besaß schließlich die meisten Energiereserven und löste sich nach 39 Kilometern endgültig von seinem Wegbegleiter. Müde geworden durch die ständigen Attacken seines Widerpart im "Bois de Bologne", der grünen Lunge von Paris, kam Raymond Kipkoech nicht mehr mit. Ohne jedwede Probleme verschärfte Ambesse Tolossa die flotte Fahrt und eilte dem Ziel entgegen.
Raymond Kipkoech war ein in diesem für ihn so bitteren Moment geschlagener Mann und konzentrierte sich darauf, zumindest das zweite Preisgeld, immerhin 30.000 Euro, zu verteidigen. Ich war total locker", erzählte Ambesse Tolossa, der strahlende Sieger in 2:08:56 Stunden, der sich in der Höhenlage von Mexiko auf den siebten und schnellsten Marathon seiner Karriere unter Anleitung seines Trainers German Silva, Ex-Champion in New York, vorbereitet hatte. "Das hat richtig Laune gemacht." Und lukrativ war's auch noch für den ehrgeizigen Burschen, der bis dato nur eine kleine Figur war im Rennstall von Jos Hermens, doch hier auf einen Schlag 50.000 Euro einsackte.
Traurige Kenianer
Die Kenianer trugen Trauer wie bereits bei der Cross-WM in Brüssel, wo ihnen auch die Äthiopier mit ihrem Ausnahmekönner Kenenisa Bekele die Schau gestohlen hatten. Ihre Mienen hellten sich eine knappe Viertelstunde später wieder auf, als Salina Kosgei auf der "Avenue Foch" auftauchte.
Sie feierte ein rauschendes Debüt und setzte mit 2:24:32 Stunden ein Achtungszeichen der besonderen Art. "Hoffentlich werde ich jetzt für die Olympischen Spiele nominiert", blickte sie erwartungsfroh in die Zukunft, "denn in Athen möchte ich unbedingt dabei sein." Doch besonders viele Chancen auf eine (Nach-)Nominierung darf sie sich nicht ausrechnen.
Wiedersehen 2005?
Um 25.000 Euro reicher und einen dicken Pokal noch dazu, verabschiedete sich Salina Kosgei, die erst nach 37 Kilometern der Äthiopierin Asha Gigi (2:26:05 h) enteilt war, von Joel Lainé und kündigte froh gelaunt an, dass sie gerne in nächsten Jahr wiederkommen möchte.
Das hatte auch Ambesse Tolossa verkündet, der andere Großverdiener an diesem Tag, dem das Glück genauso hold war wie seiner ostafrikanischen Mitläuferin. Neidisch schaute die Konkurrenz aus ihren schweißnassen Trikots. Äthiopien und Kenia, die beiden Läufer-Nationen, hatten einmal mehr die Nase vorn gehabt an der Marathon-Börse.
Ulrich Hörnemann