Mathematiker gehen auf Weltrekordjagd
Der antike Mythos der Olympischen Spiele ist es wohl, der die Leichtathletik alle vier Jahre in den Mittelpunkt des Interesses rückt und kurzfristig zur Sportart Nummer Eins macht. Dahinter verbirgt sich fraglos die Faszination an der Entdeckung menschlicher Belastungsgrenzen. Wie schnell kann ein Mensch laufen, wie hoch oder weit springen?
Sprintet Asafa Powell bald 9,29 Sekunden? (Foto: Möldner)
Geht es im Sport zumeist um den relativen Erfolg im Wettstreit mit anderen, so besitzt die Leichtathletik daneben auch eine absolute Komponente, die Weltrekorde. Sie gelten als das Maß der Dinge, nicht umsonst bezeichnet man den 100-Meter-Weltrekordler als schnellsten Mann der Welt. Quantensprünge wie der legendäre Satz von Bob Beamon auf 8,90 Meter im Weitsprung bei Olympia 1968 in Mexiko City gelten heutzutage als nahezu ausgeschlossen. Die Rekorde purzeln nicht mehr so häufig und wenn, dann sind die Steigerungen marginal. Viele der Bestleistungen bestehen seit den 80er und 90er Jahren und Experten zweifeln, ob einige, wie die 47,60 Sekunden von Marita Koch über 400 Meter, jemals unterboten werden können. Dennoch bleibt die spannende Frage, was theoretisch möglich wäre, wenn alle Faktoren optimal zusammentreffen würden.
Was ist möglich?
Was kann der Mensch tatsächlich leisten, wo sind die wirklichen Grenzen? Fragen die scheinbar nicht zu beantworten sind. Bis dato wurde die menschliche Physiognomie untersucht, dabei Theorien über den Muskelaufbau und Knochenwachstum aufgestellt, um potentielle Leistungsmöglichkeiten zu ermitteln.
Nun hat sich aber die mathematische Wissenschaft in Gestalt zweier holländischer Professoren der Thematik angenommen. Professor John H.J. Einmahl und Professor Jan R. Magnus von der Tilburg University haben eine eigene Methode entwickelt, um die ultimativen Weltrekorde zu bestimmen. Die Statistiker wanden für ihre Studie die sogenannte Extremwerttheorie an. Diese vermag Fragestellungen zu seltenen, extremen Ereignissen mit Hilfe von Kenntnissen über weniger extreme Ereignisse zu beantworten.
100 Meter in 9,29 Sekunden
Die Theorie findet bei vielen Fragestellungen Anwendung, beispielsweise bei der Vorhersage von Katastrophenszenarien. Für die Anwendung auf die Leichtathletik sammelten die Wissenschaftler die historischen Bestleistungen tausender Athleten aus allen Disziplinen, dabei von jedem Sportler nur einen Wert und setzten als Ausgangbedingungen den heutigen Stand der Wissenschaft, das existierende Material wie die Ausrüstung und die Dopinggesetze an. „Somit können wir Aussagen darüber treffen, was schon heute möglich wäre, ohne zu sagen, wann die Rekordsteigerungen eintreten werden“, erklärt Professor John Einmahl.
Aufgrund anzunehmender Veränderungen vieler Faktoren würde die Studie zu einer späteren Zeit auch einer ständigen Anpassung unterliegen müssen. „Deshalb können wir heute nichts darüber aussagen, wie Weltrekorde in der fernen Zukunft aussehen werden“, führt er weiter aus. Die sehr komplexen Berechungen und Formeln führen zu Ergebnissen, die im ersten Moment überraschen. In fast allen Disziplinen errechneten die beiden Autoren der Studie ultimative Weltrekorde jenseits bisheriger Vorstellungen. So sei über die 100 Meter der Männer eine Zeit von 9,29 Sekunden als Maximum erreichbar, der Rekord für die Ewigkeit auf der Stadionrunde der Frauen könne gar auf eine Zeit von 45,79 Sekunden verbessert werden.
Diskuswurf schon ausgereizt?
Wie gesagt, alles Mathematik. Und es gibt auch Gegenbeispiele. Im Marathon der Männer sei das Maximum fast erreicht, lediglich 49 Sekunden betrage hier noch das Steigerungspotential, weist die Studie aus. Neben den ultimativen Wellrekorden untersuchten Professor John H.J. Einmahl und Professor Jan R. Magnus auch die relative Qualität der bestehenden Rekorde und bestimmten so eine Abfolge der Wahrscheinlichkeit, in der eine Unterbietung der Rekorde zu erwarten sei. Hierbei ist zu bedenken, dass die Größe des Intervalls zwischen existierendem und potentiell möglichem Rekord nichts darüber aussagt, wie schwer eine Verbesserung tatsächlich zu bewerkstelligen ist.
So rangiert auch mit dem Diskuswurf der Frauen eine Disziplin an oberster Stelle, bei der laut der Statistiker wenig Luft nach oben besteht. Trotz einer nur geringfügig möglichen Steigerung um 80 Zentimeter auf 72,50 Meter, besitzt dieser Weltrekord die höchste Qualität aller, ist also – theoretisch – am schwersten zu knacken.
Fällt bald der 100-Meter-Weltrekord?
Eine wissenschaftliche Grundregel lautet: Theorien können niemals als wahr bewiesen werden, sie können sich nur als falsch erweisen und bestehen insoweit auch nur so lange fort, bis dieser Fall eintritt. Wenn die Berechnungen der beiden Niederländer stimmen, müssten die Rekorde mit der niedrigsten Qualität, dies sind die 100 Meter und 110 Meter Hürden der Männer als erstes fallen. Die Zukunft wird es zeigen.
Die Studie hat gerade in den Niederlanden für einiges Aufsehen gesorgt. Professor John Einmahl zeigt sich darüber durchaus überrascht: „Ursprünglich werden unsere Arbeiten in der mathematischen Welt und entsprechenden Publikationen diskutiert, doch nun interessieren sich viele großen Medien dafür.“
Skepsis auf Seiten der Trainer
Von Seiten der Leichtathletik-Szene schlägt ihm und seiner Arbeit aber durchaus Skepsis entgegen, wie eine Befragung unter mehreren DLV-Disziplintrainern nachweist. Dabei ist sicherlich zu berücksichtigen, dass aufgrund der Komplexität der Berechnungen ein Zustandekommen der Ergebnisse nicht wirklich nachvollziehbar ist.
So sagt Klaus Jakobs, Bundestrainer für den Sprint der Männer: „Ich halte derartige Umfragen bzw. Studien für wenig bis gar nicht hilfreich. Wir müssen gut trainieren und uns mit den anstehenden Aufgaben und Gegebenheiten auseinandersetzen.“ Etwas differenzierter betrachtet es der für den weiblichen Nachwuchs verantwortliche Langsprint-Coach Andreas Knauer. Er sagt auf die Frage, ob die ermittelten Rekordwerte realistisch seien: „Ich halte die errechneten Bestleistungen für nicht realistisch, zumal davon ausgegangen werden muss, dass die derzeitigen und viele früheren Weltrekorde unter Dopingeinfluss erbracht worden sind.“
Faszination Weltrekord wird bleiben
Ähnlich skeptisch äußert sich auch Rüdiger Harksen, DLV-Disziplintrainer für die 100 Meter Hürden. Zumindest für seine Disziplin räumt er aber ein, dass die ultimative Bestleistung, die bei 11,98 Sekunden bestehen soll, nicht fernab der Realität angesiedelt ist. „Wenn es eine perfekte Sprinterin in den nächsten Jahren geben sollte, die unter 11 Sekunden zu laufen vermag und dabei herausragende technische Anlagen für die Hürdentechnik hat, dann wäre ein neuer Weltrekord (derzeit: 12,21 sec) vorstellbar.
Die Frage nach dem Sinn solcher Untersuchungen ist gerechtfertigt, praktischen Nutzen für Trainer und Athleten bieten sie jedenfalls nicht. Ein weiteren berechtigten Einwand formuliert zudem Trainer Andreas Knauer: „Ich bin der Meinung, dass die ständige Jagd nach Rekorden, das Wesen des sportlichen Wettkampfs, der faire Wettstreit Athlet gegen Athlet, in den Hintergrund drängt.“ Trotz alledem, die Faszination von Weltrekorden wird ungebrochen bleiben und sie darf sich nun auch noch an der höheren Mathematik messen lassen.