Auf der Insel stürmt es in der Teetasse
Der frühere Weltklasseläufer Steve Cram ist sicherlich ein weiser Mann. Vor allem, wenn es um die nahe Zukunft der britischen Leichtathletik geht. Den Trials in Manchester konnte er am letzten Wochenende nur wenig Positives abgewinnen. In einer BBC-Kolumne reihte er sich in die Liste der namhaften Kritiker ein. Ein Spiegelbild der vielen Sorgenfalten auf der Insel, wo nur etwa 30 Athleten die olympische A-Norm des Weltverbandes IAAF erfüllen konnten. Zum Vergleich: der DLV zählt rund doppelt so viele Normerfüller in den Einzeldisziplinen.
Die britischen Olympiahoffnungen konzentrieren sich auf Paula Radcliffe (Foto: Chai)
"Im Januar hätte ich noch gesagt, wir holen drei Olympiamedaillen. Nach den zwei Tagen bei den Trials habe ich meine Meinung geändert. Es gibt zuviel, auf das man schimpfen kann, besonders bei den Männern, und es ist offensichtlich, dass es schwere Olympische Spiele werden", erklärt Steve Cram.Bekamen die Männer kürzlich von Ex-Hürdenstar Colin Jackson schon eine Abreibung, als er meinte, es gäbe nicht einen Medaillenkandidaten für die Olympischen Spiele, ruhen die Hoffnungen bei den Frauen, die im Juni beim Europacup in Bydgoszcz den bitteren Abstieg hinnehmen mussten, vor allem und ziemlich einzig auf Langstrecklerin Paula Radcliffe.
Denise Lewis humpelt
Die Sorgenfalten sind unübersehbar. Auch in Manchester wurden sie größer, denn kleiner. Siebenkampf-Olympiasiegerin Denise Lewis humpelte im Weitsprung nach drei Versuchen von der Anlage. Eine alte Fußverletzung, die Max Jones, der Leistungssportdirektor im britischen Verband, herunter spielte: "Deshalb braucht man sich keine Sorgen machen, sie hat die Probleme seit vier Jahren."
Denise Lewis selbst versah ihren Olympiastart aber inzwischen mit einem dicken Fragezeichen: "Jetzt muss ich erst einmal Reha machen, bevor ich sagen kann, ob ich wettkampffähig bin oder nicht." Zehn Tage stehen dafür als tickende Uhr im Raum.
Mit Phillips Idowu (Dreisprung) und Donna Fraser (400m) fehlten am Wochenende zwei weitere bekannte Namen, die bis zu den Olympischen Spielen wieder fit sein sollen, gleich ganz. Sprinter Darren Campbell stürzte über 100 Meter und passte dann am Sonntag auf seiner Paradestrecke, den 200 Metern. Trotzdem wurde er über beide Strecken für Athen nominiert.
Schlechtes Klima
Dass großartige Leistungen am letzten Wochenende ausblieben, schob Max Jones auf die Klima-Verhältnisse: "Wir können die Meisterschaften abhalten, wo wir wollen, das Wetter wird nie so leistungsfördernd wie in wärmeren Gefilden sein."
Mag sein, wirklich zu überzeugen wussten in Manchester aber nur wenige Top-Athleten. Dazu gehörten Weitspringerin Jade Johnson (6,72 m), Kelly Holmes (800m; 1:59,39 min) und Hayley Tullett (1.500m; 4:07,24 min).
In den Männerkonkurrenzen konnten selbst Leute wie Jason Gardener (100m; 10,22 sec), 400-Meter-Hürden-Hoffnung Chris Rawlinson (50,04 sec) oder Steve Backley (Speer; 81,25 m) die Kritiker keines Besseren belehren. Der einzig überzeugende Kugelstoßer Carl Myerscough (20,84 m) kommt nach einer vergangenen Dopingsperre für eine Olympianominierung ebenso wenig in Betracht wie die langzeitverletzten Ashia Hansen (Dreisprung) und Katherine Merry (400m).
Zu dem erst vor kurzem eingebürgerten und mit Vorschusslorbeeren bedachten US-Amerikaner Malachi Davis, der in Manchester im 400-Meter-Finale überfordert war und vom Jetlag und dem Wetter geplagt nur Fünfter wurde, hatte Steve Cram etwas zu sagen: "Das war ein Sturm in einer Teetasse!"
Christine Ohurougu einzige Explosion
Doch wo Schatten ist, muss irgendwo auch Licht sein. Die britische Leichtathletik hat wenigstens eine neue Hoffnungsträgerin. Christine Ohurougu, 20 Jahre jung, 400-Meter-Läuferin. Sie begeisterte am Wochenende bei den Trials mit ihren überraschend starken 50,98 Sekunden die Verbandsspitze um Leistungssportdirektor Max Jones, der jubelte: "Das war eine unglaubliche Leistung. Sie ist gelaufen wie eine Olympiafinalistin."
Dabei kannte diese Christine Ohurougu bislang kaum jemand, selbst Insider trauten ihr die Leistungssteigerung nicht zu. Ihre Bestzeit aus dem letzten Jahr stand bei 54,21 Sekunden, damit hatte sie bei der U20-EM Bronze geholt. Jetzt meinte sie zu ihrer Explosion: "Das war der allergrößte Schock meines Lebens." Frischer Wind, der auf der Insel gut tut.
Denn die Vorzeichen für Olympia sind schlecht. Das zeichnete sich bereits bei der letzten WM in Paris ab. Mit 57 Punkten lagen die Briten in der Nationenwertung bei vier Medaillen in der Breite deutlich hinter den kontinentalen Kollegen aus Russland (215), Frankreich (73) und Deutschland (72) zurück. Einstige Leistungsträger wie die Weltrekordhalter Colin Jackson und Jonathan Edwards werden vermisst. Als Fazit bleibt, dass diese Lücken in der Kürze der Zeit nicht geschlossen werden konnten. So gesehen hat Steve Cram wohl nicht ganz unrecht. Es stürmt derzeit mehr in den beliebten britischen Teetassen als auf der Bahn.
Das britische Team für Athen:
Männer
100m: Jason Gardener, Darren Campbell, Mark Lewis-Francis
200m: Chris Lambert, Christian Malcolm, Darren Campbell
400m: Tim Benjamin, Daniel Caines
1500m: Michael East
5000m: John Mayock
Marathon: Jon Brown, Dan Robinson, Matt O'Dowd
110m Hürden: Rob Newton, Andy Turner
400m Hürden: Chris Rawlinson, Matt Douglas
3000m Hindernis: Justin Chaston
Dreisprung: Phillips Idowu, Nathan Douglas
Speer: Steve Backley, Nick Nieland
Stabhochsprung: Nick Buckfield
4x100m: Darren Campbell, Marlon Devonish, Jason Gardener, Chris Lambert, Mark Lewis-Francis, Christian Malcolm
4x400m: Sean Baldock, Tim Benjamin, Daniel Caines, Chris Rawlinson, Robert Tobin
Frauen
200m: Abi Oyepitan, Joice Maduaka
400m: Christine Ohuruogu, Lee McConnell, Donna Fraser
800m: Kelly Holmes, Jo Fenn
1500m: Kelly Holmes, Hayley Tullett
5000m: Jo Pavey
10000m: Paula Radcliffe, Kathy Butler
Marathon: Paula Radcliffe, Liz Yelling, Tracey Morris
Weitsprung: Jade Johnson
Hammer: Lorraine Shaw, Shirley Webb
Speer: Goldie Sayers
Diskus: Philippa Roles
Siebenkampf: Kelly Sotherton, Denise Lewis
4x400m: Donna Fraser, Helen Karagounis, Lee McConnell, Carey Marshall, Christine Ohuruogu