| Rückblick

Mein Moment 2017: Der fabelhafte U20-Weltrekord des Niklas Kaul

Wir haben mitgefiebert, mitgelitten, mitgejubelt. Und ganz viel notiert, getippt, gefilmt und fotografiert. Nun ist die Leichtathletik-Saison 2017 fast zu Ende, und es ist Zeit für ganz persönliche Rückblicke. In unserer Serie „Mein Moment“ beschreiben einige Mitarbeiter der leichtathletik.de-Redaktion, welche Szenen ihnen in den vergangenen Monaten ganz besonders im Gedächtnis geblieben sind. Heute im Fokus: ein Zehnkampf für die Geschichtsbücher.
Silke Bernhart

Ein kleines bisschen war der Moment, der mir in dieser Saison am meisten Gänsehaut bescherte, tatsächlich auch „mein großer Moment“. Denn immerhin bedankten sich die Stadionsprecher bei der U20-EM in Grosseto (Italien) ganz offiziell über die Lautsprecher bei mir, „the lady to our right“, als die Zehnkämpfer nach den 1.500 Metern im Ziel waren. Ich hatte ihnen vorher auf einem Zettel vorgerechnet, wie schnell Niklas Kaul (USC Mainz) laufen muss, um den U20-Weltrekord zu brechen.

Diese Marke hatte bis dahin mit Ausnahme des deutschen Teams wohl niemand so richtig auf dem Schirm. 8.397 Punkte. Von einem U20-Athleten. Sage und schreibe 35 Jahre lang unerreicht – und 1982 von Torsten Voss sogar in einem Männer-Zehnkampf erzielt. Selbst seit Einführung der niedrigeren U20-Gewichte und -Hürden hatte sich kein U20-Athlet dieser Marke auch nur bis auf 200 Punkte nähern können. Also: Wer sollte diesen Rekord schon brechen? Zumal Niklas Kaul in Grosseto bis vor der neunten Disziplin noch nicht einmal in Führung lag. Die Stadionsprecher hatten die meiste Zeit den Esten Johannes Erm im Fokus.

1.500 Meter mit Kampfansage

Ich aber hatte natürlich schon ab Disziplin eins fleißig gerechnet. Und mein Puls stieg von Disziplin zu Disziplin. Denn spätestens nach dem Diskuswurf war klar: Da liegt was in der Luft. Bei der Qualifikation in Bernhausen hatte Niklas Kaul mit 34,53 Metern einen ordentlichen Dämpfer einstecken müssen. In Grosseto feuerte er eine Rakete ab: 48,49 Meter. Bestleistung. Ebenso wie zuvor 7,20 Meter im Weitsprung und 48,42 Sekunden über 400 Meter.

Es folgten 4,70 Meter im Stabhochsprung in brütender Mittagshitze. Wieder einmal ein Speerwurf der Extraklasse: Nach 68,05 Metern war Johannes Erm auf einmal um fast 170 Punkte distanziert. Und schließlich gab’s über 1.500 Meter den Schlussakt, der den zwei Tagen die Krone aufsetzte. „Ich wollte mir selbst Druck machen“, erklärte Niklas Kaul wenig später die Geste, die er sich vor dem Startschuss für die TV-Kameras ausgedacht hatte. Acht Finger. Vier Finger. 8.400 Punkte – wie bitte?!

Ich muss noch jetzt beim Blick in die Ergebnislisten den Kopf schütteln, wenn ich die Zeit sehe, die dort wie eingemeißelt ist: 1.500 Meter in 4:15,52 Minuten, von einem 19-jährigen Zehnkämpfer, der auch 2,10 Meter hoch springen und den Speer über 70 Meter schleudern kann. Weiter ging das hektische Rechnen nach dem Zieleinlauf, dann stand fest: Niklas Kaul hatte gerade mit unfassbaren 8.435 Punkten einen als so gut wie unerreichbar eingeschätzten U20-Weltrekord gebrochen.

Standing Ovations

Da stand er dann also, mit dem fettesten Grinsen im Gesicht, mit der Deutschland-Fahne um die Schultern, nassgeschwitzt, im Kreise seiner Familie: Mutter Stefanie und Vater Michael, die auch seine Trainer sind, und Schwester Emma. Nachwuchs-Bundestrainer Lars Albert war da. Physiotherapeut David Violakis. Seine deutschen Mitstreiter Maximilian Vollmer aus Ulm und Trainingspartner Manuel Wagner. Und man konnte Niklas Kaul ansehen, was er wenig später sagen würde: „Das ist einfach gerade wie im Märchen. Und ich genieße das total!“

Vor lauter Aufregung hätte ich da fast meinen eigenen Moment verpasst. „She is not even listening…“, schnappte ich nur auf und winkte dann doch kurz lachend und mit rotem Kopf zu den Kollegen an den Mikros rüber. Ich hatte tatsächlich nicht zugehört. Man konnte ohnehin sein eigenes Wort kaum verstehen. Und ich war beschäftigt. Mit Standing Ovations. Für Niklas Kaul.

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