| Rückspiegel

Mein Moment 2018 – Die finale Flugshow von Tobias Scherbarth

Kaum zu fassen: Das EM-Jahr 2018 ist schon fast Geschichte! So vieles ist passiert in den vergangenen Monaten. Manches scheint schon so weit weg, anderes ist präsent, als wäre es gestern passiert. Wir wollen das Jahresende dazu nutzen, auf Highlights zurückzublicken. Aus einer ganz persönlichen Perspektive, für die in all unseren News und Geschichten bisher kein Platz war. Heute im Fokus: die finale Flugshow von Tobias Scherbarth beim Domspringen in Aachen.
Harald Koken

Natürlich: Auch ich hatte Gänsehaut, als Mateusz Przybylko bei der EM in Berlin Hochsprung-Gold holte. Auch ich war begeistert, als Konstanze Klosterhalfen (beide TSV Bayer 04 Leverkusen) bei der DM in Dortmund zum deutschen 3.000-Meter-Hallenrekord stürmte. Auch ich war regelrecht aus dem Häuschen, als sich Hindernis-Olympiasieger Conseslus Kipruto (Kenia) beim Diamond League-Finale in Zürich (Schweiz) mit einem spektakulären Schlussspurt zum Sieger kürte, obwohl er schon kurz nach dem Start seinen linken Schuh verloren hatte.

Nachdrücklich im Gedächtnis geblieben ist mir aber ein Moment, den ich in Aachen erlebt habe – beim Domspringen auf dem altehrwürdigen Katschhof. Sicher: Die Vorstellung von Vize-Weltmeister Piotr Lisek (Polen), der 5,80, 5,85 und 5,90 Meter jeweils im ersten Versuch nahm, sein Schlagabtausch mit Weltmeister Sam Kendricks (USA) war packend. Für mich stand an diesem lauen Spätsommerabend Anfang September aber ein anderer Luftakrobat im Mittelpunkt: Tobias Scherbarth.

Einzigartige Atmosphäre

Mit den jungen Hüpfern konnte der 33-Jährige vom TSV Bayer 04 Leverkusen noch ganz gut mithalten. Dennoch hatte der blondgelockte Sympathieträger entschieden: Der für seine einzigartige Atmosphäre bekannte Wettkampf in der Kaiserstadt sollte sein letzter sein. Bis 5,40 Meter überwand der WM-Siebte von 2015 alle Höhen im ersten Durchgang. „One more time“ schallte es symbolträchtig aus den Boxen, als der finale Countdown anstand, er sich zum dritten Mal an diesem Abend an 5,50 Metern versuchte.

Keinen der rund 5.000 Zuschauer hielt es mehr auf seinem Sitz. Das Publikum begleitete den 40 Meter langen Anlauf mit vorweggenommenen „stehenden Ovationen“ und rhythmischem Klatschen. Fast schon heroisch, beinahe so als sei es eine Trophäe trug Tobias Scherbarth den harten Stab über dem Kopf, dabei immer schneller werdend. Das Herz raste, der Blutdruck stieg – beim Athleten wie auch beim Publikum, das urplötzlich innehielt, verstummte.

Plötzliche Stille

Von jetzt auf gleich war es mucksmäuschenstill. Der Knall, als die Stabspitze aus vollem Anlauf in den schleusenartigen Einstichkasten gerammt wurde, war weithin hörbar. Routiniert brachte der dreimalige Deutsche Meister den Stab in die Vertikale – doch die erhoffte Katapultwirkung blieb aus. Zu wenig Energie wurde freigesetzt, um den Stab noch einmal in einen Flitzebogen zu verwandeln. Ein letzter Höhenflug – es sollte nicht sein.

Dem Raunen aus 5.000 Kehlen folgte tosender Applaus. Minutenlang. Langjährige Wegbegleiter wie Björn Otto, Rens Blom, Jeff Hartwig, Lars Börgeling, Michael Stolle, Michel Frauen und der an diesem Abend ebenfalls offiziell abgetretene Hendrik Gruber eilten herbei und kletterten auf den Anlaufsteg. Einer nach dem anderen umarmte Tobias Scherbarth und wünschte ihm per Handschlag alles Gute.

Symbolträchtige Regentropfen

„Es ist schon ein komisches Gefühl, dass es das jetzt war“, erklärte der scheidende Stabhochspringer im Interview mit Moderator Dirk Bartholomy – und hatte dabei feuchte Augen. Irgendwie konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als vergieße auch der Himmel in diesem Moment ein paar Tränen. Jedenfalls begann es leicht zu nieseln. Der Chronist sah sich genötigt, sein Equipment unter einer auf dem Boden abgelegten Jacke in Sicherheit zu bringen.

Dieses kurze Niederknien kann durchaus als tiefe Verbeugung vor einem Sportler interpretiert werden, der mit 19 Jahren daheim in Leipzig auszog und ins 500 Kilometer entfernte Leverkusen übersiedelte – mit einer Bestleistung von 4,80 Metern. Unter der Regie von Leszek Klima steigerte er sich um satte 96 Zentimeter. Selbst schwerste Verletzungen, immer wieder andere Rückschläge konnten ihn nicht aus der Bahn werfen. Ein Profi durch und durch. Chapeau!

Sprung ins Berufsleben 

Starts bei Welt- und Europameisterschaften sowie bei Olympischen Spielen – Höhepunkte, auf die Tobias Scherbarth mit Stolz zurückblickt. „All die Freundschaften, die gemeinsamen Trainingslager und Wettkampfreisen auf der ganzen Welt haben mein Leben ungemein bereichert und werden immer ein Teil von mir sein“, so der Vorzeige-Athlet, der bei internationalen Einsätzen über 20 Mal das Nationaltrikot trug.

Kein Zufall, dass er ausgerechnet auf dem Aachener Katschhof seine Abschiedsvorstellung gab. „Wir haben viele schöne Marktplatzspringen in Deutschland, aber hier in Aachen ist es einfach noch einmal kompakter“, hatte Tobias Scherbarth schon nach seinem Sieg 2016 gesagt und viele Sympathien gesammelt. Seine besondere Verbundenheit hatte der 1,95 Meter große Modellathlet unter Beweis gestellt, als er im Vorfeld der diesjährigen Veranstaltung mit Aachener Kids trainierte und ihnen einen Hauch von „Fluggefühl“ verschaffte.

Tobias Scherbarth wird fehlen, nicht nur auf der Wettkampfbühne. So hinterlässt er als Athletensprecher seines Vereins große Fußstapfen. Sein Fingerspitzengefühl, seine Charakterstärke, sein Charisma – auch bei der nächsten Karriere sicher Schlüssel zum Erfolg. Der Sprung ins Berufsleben steht bevor – ein neuer Lebensabschnitt mit neuen Herausforderungen. Glückauf, Tobi!

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