Millimeterentscheidung in München
Genau 400.000 Millimeter misst die Stadionrunde. Gut möglich, dass am 8. August um 20.25 Uhr jeder einzelne zählt. Dann nämlich, wenn die europäische Elite der Viertelmeiler aufeinander trifft und die hat sich schließlich im Vorfeld der Wettkämpfe von München rein gar nichts geschenkt.
Ingo Schultz ist fit für München (Foto: Kiefner)
Ingo Schultz, EM-Botschafter und die große deutsche Hoffnung, führt die europäische Saisonbestenliste mit den 44,97 Sekunden an, mit denen er in Wattenscheid zum Titel geflogen ist. Doch nur eine Hundertstelsekunde dahinter reiht sich schon sein wohl ärgster Widersacher Daniel Caines ein. Zudem ließ der 1,80 Meter große und 72 Kilogramm leichte Brite dem 2,01 Meter großen Hünen beim Europa-Cup in Annecy das Nachsehen.Marek Plawgo will eine Medaille
Dahinter folgen Marek Plawgo aus Polen mit 45,35 Sekunden, der Franzose Marc Raquil mit 45,39 Sekunden und der Spanier David Canal mit 45,40 Sekunden. Insbesondere bei Plawgo ist damit zu rechnen, dass er wie bei seinem Halleneuropameistertitel von Wien auf den Punkt fit ist. Dieses Timing spricht man allerdings auch Ingo Schultz zu. Kontinuierlich steigerte sich der frühere Geige-Spieler in dieser Saison – eben ganz so wie vor Jahresfrist bei den Weltmeisterschaften in Edmonton, als er erfrischend unbekümmert die Silbermedaille erstürmte.
Doch ist Ingo Schultz auch in München vor heimischen Publikum so locker wie in der kanadischen Ferne? Zuzutrauen ist ihm grundsätzlich alles, nur mittlerweile wird eben auch alles von dem Hamburger im roten Dortmunder Trikot erwartet. 95 Prozent der leichtathletik.de-Leser rechnen fest damit, dass Schultz den Titel holt – knapp 19 Prozent glauben sogar, dass er dabei den Europarekord von Thomas Schönlebe verbessert. Der steht seit den Weltmeisterschaften 1987 in Rom schon viel zu lange bei 44,33 Sekunden. "Ich bin fit", verkündet Schultz jedenfalls selbstbewusst und was das in Sekunden heißt, wird sich spätestens im 400 Meter-Finale zeigen.
Überrascht Yuriy Borzakovskiy?
Der große Unbekannte im Feld ist wie so oft Yuriy Borzakovskiy. Eigentlich einer der Favoriten auf den 800-Meter-Titel, machte der Russe seine Ankündigung wahr und startet in München lediglich über die 400 Meter. Nachvollziehbar ist das nur schwer. Als Grund gibt der 21jährige an, seine Grundschnelligkeit verbessern zu wollen – Europameister könne er schließlich noch oft genug werden. In München wird es wohl noch nichts mit dem Edelmetall. Denn mehr als 45,91 Sekunden zeigte Borzakovskiy bislang nicht. Um in die Münchner Millimeterentscheidung einzugreifen, muss er sich jedenfalls noch erheblich steigern.
Gold für Großbritannien – aber dahinter?
Es könnte die Woche des Ingo Schultz werden. In der Einzelkonkurrenz ist er Favorit und auch im Verbund mit Jens Dautzenberg, Bastian Swillims, Ruwen Faller oder Lars Figura, zählt er zu den Medaillenkandidaten. In Annecy beim Europa-Cup haben sie schon einmal erfolgreich geprobt, hinter den Briten den zweiten Platz belegt und der deutschen Männer-Mannschaft den zweiten Platz im Gesamtklassement gesichert.
Dabei hat das Quartett in 3:00,80 Minuten immerhin die Vierer aus Frankreich und Polen hinter sich gelassen. Auch für München ist das kein unrealistisches Ziel. Denn die beiden Länderstaffeln verfügen ebenso wie die Deutschen nur über einen Sprinter, der in dieser Saison eine Zeit von unter 46 Sekunden stehen hat. Um die Plätze auf dem Treppchen mitmischen, werden sicherlich auch die Russen, die mit den Langhürdlern Boris Gorban und Ruslan Maschenko zwei heiße Eisen im Feuer haben. Aber allein Schultz und co. können auf die Unterstützung des Publikums im Kampf um den Titel setzen.
Zumal auch die siebenfachen Europameister Großbritannien (seit 1986 konnte das Königreich den Wettbewerb immer für sich entscheiden) in der Langstaffel nicht mehr so ungefährdet scheinen, wie noch Ende der 90er Jahre, als sie mit Iwan Thomas, Marc Richardson und Jamie Baulch drei Sprinter stellten, die in der Lage waren, unter 45 Sekunden zu laufen. In München wird der Druck auf den schmalen Schultern der beiden Youngster Daniel Caines und Tim Benjamin lasten. Für den Titel sollte es trotzdem reichen – aber dahinter wird hoffentlich das Publikum für die Entscheidung sorgen.