Muriel Hurtis auf Pérecs Spuren
Die Zuschauer starrten am Ende mit angehaltenem Atem auf die Zielgerade. Dann entluden sich die hohen Erwartungen in lauten Jubelakkorden. Muriel Hurtis, eine der Hauptdarstellerinnen beim IAAF Permit Meeting im „Stadium Villeneuve d’Ascq“ von Lille, war die 200 Meter soeben in 22,54 Sekunden gerannt.
Muriel Hurtis läuft die 200 Meter in 22,54 Sekunden (Foto: Chai)
Schnell, aber nicht schnell genug! Den neun Jahre alten französischen Rekord von Marie-José Pérec, die an gleicher Stätte im „Stadium du Nord“ eine 21,99 gelaufen war, hatte sie deutlich verpasst. „Ich war etwas nervös“, sagte Muriel Hurtis, die auf Bahn vier sogleich einen Fehlstart produziert hatte, „da muss noch viel mehr kommen.“ Dramaturgisch perfekt, hatten die Organisatoren den spektakulären Show-Down an den Schluss ihrer Veranstaltung gelegt, wohlwissend, dass die dunkelhäutige Vollblutsprinterin mit ihren endlos langen Beinen mittlerweile zur großen Hoffnungsträgerin im Land der Tricolore herangereift ist.Die 23-jährige Französin, deren Eltern von der Karibikinsel Guadeloupe herkommen, tanzte in den vergangenen Monaten wie ein bunter Schmetterling durch die Arenen. Welch ein Genuss, ihr zuzuschauen! Muriel Hurtis ist ehrgeizig, ungeheuer ehrgeizig. Angefeuert von einem begeisterten Publikum, wollte die einstige Junioren-Weltmeisterin endgültig aus dem Schatten von Marie-Joé Pérec treten. Derlei Vergleiche gehen ihr ohnehin ganz gewaltig auf den Nerv. „Sie ist ihren Weg gegangen, und ich gehe meinen“, hat Hurtis immer wieder betont, „die einzige Gemeinsamkeit ist, dass wir unsere Wurzeln in Guadeloupe haben – und die Tatsache, dass wir für Frankreich starten.“ Mit Pérec, der Leichtathletik-Diva, die seit ihrem olympischen Doppelsieg 1996 in Atlanta über 200 und 400 Meter nur noch durch kleinere und größere Skandale auf sich aufmerksam gemacht hat, möchte sie bitte schön nicht in einen Topf geworfen werden.
Nach ihren flotten Zeiten ist Muriel Hurtis, egal ob sie will oder nicht, endgültig in die Favoritenrolle für die EM geschlüpft. Da mag sie sich drehen und wenden, der Weg zu den heiß begehrten Medaillen wird über die hoch aufgeschossene, 1,80 Meter große Athletin führen. Dass sie augenblicklich prima in Form ist, deutete sich bereits in Athen an, wo ihr wenige Tage zuvor mit 11,06 Sekunden eine fulminante Verbesserung ihrer eigenen Bestzeit (11,25) gelungen war. Neunzehn Hundertstel war sie schneller unterwegs gewesen und dabei lediglich der amtierenden Weltmeisterin Zhanna Pintusevich (11,02) unterlegen, die sich mit knappem Vorsprung vor ihrer Herausforderin ins Ziel retten konnte. Aber die 200 Meter, also die doppelt so lange Distanz, sind und bleiben ihre Spezialität. „Bei den Europameisterschaften in München möchte ich aufs Podium“, hat sie stets keck und frech verkündet, „alles andere wäre eine Enttäuschung, so wie die Saison bisher verlaufen ist.“
Nach ihrem Titelgewinn bei der Hallen-EM in Wien, dem Zweiten in unmittelbarer Folge, will Muriel Hurtis nun auch im Freien nachlegen. „Ich kann im Moment alle schlagen“, sagte sie, und dabei blitzte ihr die blanke Zuversicht aus den Augenwinkeln, „auch eine Marion Jones.“ Mit einer Riesen-Portion Selbstbewusstsein will Muriel die nächsten Herausforderungen in Angriff nehmen. Man darf gespannt sein...