Nach Turin - Europa ist nicht die ganze Welt
Ein leichtes Stirnrunzeln konnte sich Rüdiger Harksen, Cheftrainer Track des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), nicht verkneifen, als seine „zweite Gehirnhälfte” Herbert Czingon im Vorfeld der Hallen-Europameisterschaften in Turin (Italien) mutig auf eine Medaillenausbeute im zweistelligen Bereich spekulierte. Doch der Cheftrainer Field sollte Recht behalten. Zehn Mal Edelmetall gab es für die DLV-Vertreter - so viel, wie seit elf Jahren nicht mehr, und gleich drei Medaillen glänzten golden.
„Natürlich bin ich ein bisschen belächelt worden, als ich bei den Deutschen Hallen-Meisterschaften in Leipzig bei der Pressekonferenz zehn Medaillen für möglich gehalten habe, und ich bin selber dabei auch ein wenig erschrocken”, erinnert sich Herbert Czingon, seit Anfang des Jahres im DLV für die technischen Disziplinen zuständig. „Aber wenn man die Ergebnisse hochgerechnet hat, war diese Ausbeute realistisch.”Besonders der Auftritt des Bremers Sebastian Bayer, dem mit 8,71 Metern ein neuer Hallen-Europarekord im Weitsprung gelang, ließ den Cheftrainer Field im Anschluss an die Meisterschaften ohne Worte: „Ich bin wirklich nach wie vor sprachlos, wie viele meiner Kollegen. So etwas ist eine Sternstunde, etwas ganz, ganz Seltenes, da haben einfach alle Faktoren zusammengepasst. Ich bin überwältigt von der Leistung.”
Stimmung im Team fantastisch
Sieben Monate nach dem enttäuschenden Abschneiden vieler deutscher Leichtathleten bei den Olympischen Spielen in Peking (China) liefern die Ergebnisse aus Turin nun einen Stimmungsaufschwung, wie man ihn sich besser nicht hätte wünschen können: „In der Mannschaft ist die Stimmung phantastisch”, berichtet Herbert Czingon. „Und das, was ich an Feedback mitbekommen habe aus der Heimat, über die Medien und über Telefonate, ist ebenfalls überwältigend.”
Schon am Eröffnungstag der Hallen-Europameisterschaften sorgten die Kugelstoßerinnen Petra Lammert (SC Neubrandenburg) und Denise Hinrichs (TV Wattenscheid 01) mit einem Doppelsieg für einen Auftakt nach Maß. Ariane Friedrich (LG Eintracht Frankfurt), die in dieser Hallensaison einen Höhenflug nach dem nächsten ablieferte, wurde im Hochsprung ihrer Favoritenrolle gerecht und konnte das erste EM-Gold ihrer Karriere feiern.
Zweimal auf dem Treppchen war der DLV außerdem im Stabhochsprung der Frauen vertreten, wo Silke Spiegelburg (TSV Bayer 04 Leverkusen) ihren deutschen Hallenrekord auf 4,75 Meter verbesserte und vor der Mainzerin Anna Battke Platz zwei belegte. Nils Winter (Team Referenznetzwerk Leverkusen) machte im Weitsprung den zweiten Doppelsieg perfekt, Kugelstoßer Ralf Bartels (SC Neubrandenburg), Stabhochspringer Alexander Straub (LG Filstal) und Sprinterin Verena Sailer (MTG Mannheim) steuerten drei weitere Bronzemedaillen bei.
Schritt nach vorne gelungen
„Ich freue mich, dass auch die Disziplinen aus meinem Bereich einen Teil zum Erfolg der DLV-Mannschaft beigetragen haben”, gibt Rüdiger Harksen, im DLV mit dem Laufbereich betraut, nach drei erfolgreichen Wettkampftagen zur Auskunft. „Verena Sailer hat ihre Wunschmedaille, und die 4x400-Meter-Staffel der Männer sowie Wolfram Müller über 1.500 Meter haben als Vierte nur ganz knapp das Edelmetall verpasst.”
Auch Herbert Czingon hob hervor, dass bei idealem Wettkampfverlauf sogar noch mehr drin gewesen wäre: „Wir haben zwei vierte Plätze mit sehr, sehr guten Leistungen. Das macht deutlich, dass wir hier nicht über unsere Verhältnisse gelebt haben, sondern dass tatsächlich ein Fortschritt festgestellt werden kann, der uns im Hinblick auf Berlin ein Stück weiter bringt.”
Spaß mit und vor dem Team
Aber auch diejenigen, für die sich die Träume in Italien nicht erfüllten, war der Start am Wochenende eine wichtige Erfahrung: „Die Teilnahme hat sich auch für diejenigen gelohnt, die nicht in das Finale eingezogen sind. Sie haben wichtige Erfahrungen gesammelt“, sagt Herbert Czingon. „Einige konnten sich hier international die Hörner abstoßen und haben nützliches Lehrgeld bezahlt“, bestätigt Rüdiger Harksen.
Dieser lobt dabei auch die Stimmung in der Mannschaft: „Der Zusammenhalt und die Unterstützung von Trainern und Athleten sind super. Es macht Spaß, vor der Mannschaft zu stehen.“ Herbert Czingon ergänzt dazu: „Nach Peking herrschte eine bedrückte Stimmung. Die Strategie, die Kommunikation zu verbessern und den Kontakt zu den Athleten zu suchen, hat gewirkt. Uns ist schon ein Schritt nach vorne gelungen.“
Positives Signal für Berlin
Für die Heim-Weltmeisterschaften in Berlin (15. bis 23. August) sei nun das nächste Level erreicht. „Die Athleten werden jetzt Rückschlüsse aus der Hallensaison ziehen und sich als nächstes in Trainingslagern auf die Saison im Freien vorbereiten, um dort an die Erfolge in der Halle anzuknüpfen”, erklärt der Cheftrainer Field.
Bei der Einordnung der Leistungen müsse im Hinblick auf den Jahreshöhepunkt jedoch der Weltmaßstab herangezogen werden. „Dort wird die Konkurrenz um ein Vielfaches stärker sein”, bremst Herbert Czingon überzogene Erwartungen. „Man empfindet das heute fast wie ein ‚Wünsch-dir-was‛ - wünsch dir eine Medaille, und du bekommst sie. Das wird nicht so weitergehen.”
Weitsprung-Europarekord als i-Tüpfelchen
Auch für Sebastian Bayer hofft er, dass die Erwartungen an ihn im realistischen Rahmen bleiben. „Die 8,71 Meter werden wie ein Kloß an ihm hängen bleiben. Er wird in Zukunft immer an dieser Leistung gemessen werden. Es gibt Situationen, in denen einfach alles zusammenläuft. Aber Sportler sind keine Maschinen. Heute ist Sebastian Bayer mit Abstand der schnellste Springer gewesen. Wenn die US-Amerikaner mit im Wettkampf sind, wird dies nicht mehr der Fall sein. Wir werden sehen, was im direkten Aufeinandertreffen passiert.”
Bei den Europameisterschaften in Turin erkämpften sich jedoch die DLV-Athleten ihren Platz im Rampenlicht und eroberten die Herzen der deutschen Leichtathletik-Fans zurück. Eine Werbung, wie sie sich die Cheftrainer für Berlin nicht besser hätten wünschen können? „Ja - mit diesem i-Punkt zum Abschluss. Sebastian Bayers 8,71 Meter waren wirklich die Krönung.”
Geschlossen worden sind die Tore in der Turiner Halle aber ausschließlich mit dem Blick voraus und einer Gewissheit. „Wir haben Athleten, die selbstbewusst in den Wettkampf gehen. Sie gehen mit Motivation, Konzentration und Lockerheit ran“, stellt Rüdiger Harksen fest und merkt an: „Das war natürlich Europa und nicht die ganze Welt. Was die Ergebnisse bedeuten, sehen wir im Sommer.“