Nachgefragt! Muss die Leichtathletik neu erfunden werden?
Die Zukunft der Leichtathletik wird derzeit vielerorts ausgiebig diskutiert. leichtathletik.de hat sich deshalb einmal umgehört und für Sie nachgefragt. Dabei kamen einige interessante Statements und Ideen zum Vorschein, die mehr als nur eine Diskussionsgrundlage sein könnten.
Dr. Clemens Prokop (Foto: Kiefner)
Dr. Clemens Prokop (DLV-Präsident):“Jede Krise ist eine Chance für neue Wege“
Uns weht derzeit ein rauer Wind entgegen. Die Rahmenbedingungen für die Leichtathletik haben sich zunehmend verändert. Der gesellschaftliche Wandel hat dazu geführt, dass der nicht organisierte Freizeitsport an der Basis der Leichtathletik den Rang abgelaufen hat. Die Leichtathletik präsentiert sich zunehmend als Sportart, die zwar in allen Umfragen hohe Sympathiewerte aufweist, aber trotzdem fast nur ein Fachpublikum in die Stadien lockt. Bilanziert man die Summe der Indizien nüchtern, so stehen wir an der Schwelle einer Entwicklung, an der wir uns von einer Volkssportart zu einer Randsportart bewegen. Der Leichtathletik-Verband hat sich als Meister der Diskussionen und Analysen erwiesen, aber allenfalls als Anfänger, was den Mut zu Experimenten und Unkonventionellem betrifft. Erforderlich sind jetzt klare und wegweisende Entscheidungen, weil jeder Meter, den wir heute auf dem Markt der Sportarten verlieren, in einem Mittelstreckenrennen zurück gewonnen werden muss. Wir werden nur dann einen Weg in die Zukunft der Leichtathletik finden, wenn die deutsche Leichtathletik im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz behält. Mit entscheidend für dieses Rennen wird aber sein, wie wir unsere Veranstaltungen künftig präsentieren. Auf den Punkt gebracht, bedeutet es, dass wir uns vom Meeting weg- und zum Event hinbewegen müssen. Wir werden diese Veränderungen konkret angehen und beim Sparkassen DLV-Meeting in Dortmund versuchen, Leichtathletik in einem neuen Gewand zu präsentieren. Wichtig ist das Bewusstsein, dass jede Krise auch eine Chance ist, neue Wege zu gehen. Wir müssen diesen Zwang zur umfassenden Reform der Leichtathletik nutzen und mutig und entschlossen in die Zukunft schreiten.
Kathleen Friedrich (Deutsche Meisterin über 1500 Meter):
“Müssen an den Wurzeln anpacken“
Es gibt in der Leichtathletik immer etwas, das man verbessern kann, so zum Beispiel die Fehlstartregel. Aber ich finde nicht, dass die Leichtathletik neu erfunden werden muss. Ich würde die Sportart nicht total splitten. Die Fernsehquoten kommen nur dadurch zustande, dass die Leute sehen wollen, wo die Deutschen sind. Irgendwo gibt es doch einen Nationalstolz. Wenn man aber keine konkurrenzfähigen Athleten hat, die Medaillen holen, kann man noch soviel PR machen. Wir müssen wieder an den Wurzeln anpacken. Die Basis ist einfach in vielen Disziplinen nicht da, es beschränkt sich meistens auf ein bis zwei Leute. Wenn es wieder richtig große Leichtathletik in Deutschland geben soll, brauchen wir Weltklasseleistungen. Es muss wieder mehr gefördert werden, man muss wieder nach oben wollen. An diesem fehlenden Anreiz ist aber wohl auch ein wenig die Gesellschaft schuld.
Wolfram Götz (Veranstaltungsmanager Hamburg-Marathon):
“Leichtathletik mal anders, Meeting mal anders“
Die Leichtathletik muss nicht neu erfunden werden, sie muss modifiziert werden. Man muss versuchen, zu inszenieren und weg davon, einfach das Programm runterzuspulen. Wenn es endlich einen Meeting-Direktor gäbe, der das konsequent umsetzt, würde man schnell merken, wie begeistert die Zuschauer sind. Momentan sind die Leute mit einem Auge hier, mit dem anderen dort und sitzen nur da und fragen sich. Es gibt niemanden, der die Veranstaltung steuert und regelt. Meetings leben von Spielbalken und Varianten. Den Ansatz in Sindelfingen (wir berichteten) finde ich gut. Auch ein System wie beim Skispringen wäre für die Zuschauer interessanter. Warum bindet man die Besucher nicht auch ein oder macht viel mehr Schülerläufe und Jugendstaffeln? Eine solche Veranstaltung muss unter dem Motto 'Leichtathletik mal anders, Meeting mal anders' auch medial mit begleitet werden.
Kurt Ring (Cheforganisator Deutsche Cross-Meisterschaften 2001 und 2002):
“Man könnte noch radikaler vorgehen“
Die mit viel Lob überschütteten Meisterschaftstage haben uns von der LG Domspitzmilch Regensburg zwar recht stolz gemacht und vielleicht einen kleinen Schritt in die richtige Richtung aufgezeigt, eine Reform waren sie jedoch nach meiner Ansicht noch nicht. Das, was wir in Regensburg gemacht haben, ist in anderen Ländern und in anderen Sportarten schon längst Alltäglichkeit. Ich meine, man könnte noch wesentlich radikaler vorgehen. Ich persönlich kann mir gut eine Veranstaltung mit zwei Jugendläufen, einem Juniorenlauf und drei Hauptläufen, aber auch mit Crosssprintentscheidungen á la Skilanglauf als jeweiliger Zwischenfüller vorstellen. Schultz gegen Schumann oder Breuer gegen Gesell, schnell, flott und spannend, mit anschließender Flower-Zeremonie für die ersten Drei. Angesichts dessen, dass uns mit einem bedrohlichen Annähern Dieter Baumanns an die Masters-Klasse á la longue auf der klassischen Streckenlänge die nationalen Helden ausgehen werden, wäre eine kleine Verlagerung auf den derzeit starken und auch noch jungen Langsprint und 800 Meter-Bereich durchaus wünschenswert. Und es wäre etwas Neues. Ein Aufbessern der Männer- und Frauenlangstreckenentscheidungen mit zwanzig oder dreißig leistungsmäßig dazu passenden Einladungsgästen aus dem Ausland, die deutsches Potenzial zwar fordern, aber eben nicht unbedingt vorführen, würde auch gut tun. Für den Cross jedenfalls darf Regensburg eins und zwei keineswegs der Gipfel gewesen sein. Ein Aufbruch zu neuen Gestaden muss es sein. Erst dann sind wir hier in der bayerischen Provinz wirklich stolz, wenn es einmal heißt: Dort in Regensburg hat alles begonnen!
Ingo Schultz (Vize-Weltmeister 400 Meter):
“Durch Typen die mediale Präsenz erhöhen“
Mit den rückläufigen Zuschauer- und Sponsorenzahlen muss gewiss etwas unternommen werden. Und man muss auch etwas riskieren, indem man mal völlig neue Ideen und Konzepte ausprobiert. Aber das ist einfacher gesagt als getan, weil die Rahmenbedingungen wie Infrastruktur oder Fernsehübertragung oftmals wenig Spielraum lassen. Außerdem sind die Leichtathletik-Fans, glaube ich, recht konservativ. Aber: wer nicht wagt, der gewinnt nicht. Und ein bisschen fetzige Musik, die geschickt die Wettkämpfe begleitet, ist schon mal eine gute Sache. Bei dem Thema ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Als positives Beispiel führe ich immer das Skispringen an. Da hat es ein Fachverband innerhalb kurzer Zeit geschafft, eine Sportart vom Rand in den Medienfokus zu bringen. Allerdings mit charismatischen Protagonisten. Und das ist auch bei uns wohl der einzige Weg, dass man mit "Typen" die mediale Präsenz erhöht. Da gibt es auch ein paar, zum Beispiel denke ich an Nils Schumann. Das ist aber auch deshalb schwer, weil wir so viele Disziplinen haben. Wenn man sich ein paar wenige herauspickt, ist die Gefahr groß, auf das falsche Pferd zu setzen. Und wir brauchen Duelle. Das elektrisiert und polarisiert.
Prof. Dr. Helmut Digel (IAAF-Vize-Präsident; OK-Präsident EM 2002):
“Möchten über die EM in München Zeichen setzen“
Ich habe nicht die Sorge, die öffentlich artikuliert wird. Laufen, Werfen und Springen ist das Fundament, keine andere Sportart kann junge und alte Menschen so binden. Die Kritik an der Leichtathletik ist eine Kritik an Organisation und Präsentation. Vieles ist zu langatmig, die Jugend konnte man damit nicht ansprechen. Für die Europameisterschaft in München haben wir uns einiges vorgenommen. Der Olympiapark soll zu einem Erlebnispark werden, indem wir Musik und Kultur einbringen. Unsere Idee knüpft an die Olympischen Spiele von 1972 an. Der Wettkampf in der Arena soll allerdings möglichst rein stattfinden. Wir möchten die Ereignisse in ein anschlussfähiges Umfeld einbinden und damit über die EM Zeichen setzen. Das braucht diese Sportart, um für das Fernsehen weiter reizvoll zu sein.
Frank Thaleiser (Geschäftsführer German Meetings e.V.):
“Die Zuschauer wollen Show“
Die Leichtathletik muss fernsehtauglicher werden, um sich nicht selbst kaputt zu machen. Zur Zeit wird die Leichtathletik für Leichtathleten gemacht. Irgendwann wird dieses Publikum immer weniger. Die Zuschauer wollen Show geboten bekommen, deshalb gehen sie zum Skispringen. Früher hat der Hochsprung dank eines Mögenburg oder Thränhardt geboomt, dann gab es Heike Henkel. Sobald die großen Namen abtreten, verliert man die Attraktivität einer Disziplin. Das wird man irgendwann auch beim Stabhochsprung sehen. Im Laufbereich kann man nicht fünfmal Andre Bucher gegen Yuri Borzakovsky und Nils Schumann laufen lassen. Die Leute haben Langeweile, deshalb kommt ihnen eine Veranstaltung wie ein Stabhochsprung am Kölner Dom entgegen und die Einzelevents haben es einfacher als die Voll-Meetings. Die Leichtathletik wird es im Moment schwer haben, die großen Stadien zu füllen. Die öffentlich-rechtlichen Sender werden außerdem Schwierigkeiten bekommen, die Kernsportart in ihrem Programm unterzubringen und die Macht der Medien ist ein weiteres Problem.
Christine Adams (Deutsche Hallenrekordhalterin Stabhochsprung):
“Stabhochsprung ist gute Werbung für die Leichtathletik“
In Wien bei der Hallen-EM ist der Stabhochsprung zum Beispiel total untergegangen. Dort haben die Zuschauer gerade mal aufgeguckt, als der Weltrekord auflag. Für uns ist deshalb ein Meeting wie in Sindelfingen (wir berichteten) schon toll. Es ist natürlich schade für die anderen Disziplinen, die zuhause bleiben müssen. Deshalb bin ich der Meinung, dass man das natürlich so nicht den ganzen Winter durchziehen kann. Aber einmal, auch zum Abschluss mit dieser Teamidee - das wäre super. Wenn das Niveau im Stabhochsprung weiter so hoch bleibt, ist es ganz einfach auch eine gute Werbung für die Leichtathletik. Der Level ist nun einmal nicht in allen Disziplinen in Deutschland so gegeben. Das wird sich über die Jahre aber auch sicher wieder ändern.
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