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Nafissatou Thiam: Elegant, kampfstark, charismatisch

Die Belgierin Nafissatou Thiam, die nur 50 Kilometer von Aachen entfernt lebt, hat sich bei den Olympischen Spielen in Rio (Brasilien) als Siegerin im Siebenkampf die Krone aufgesetzt. Fünf persönliche Bestleistungen und drei Siege in Einzeldisziplinen bildeten die Grundlage für das Überraschungs-Gold. Den belgischen Rekord im Siebenkampf verbesserte sie auf 6.810 Punkte – eine Steigerung um über 300 Zähler.
Harald Koken

Was für eine Energieleistung: Mit Einsatz, Technik und einem Quäntchen Glück hat sich Nafissatou Thiam in Rio Olympia-Gold im Siebenkampf gesichert – und im Nachbarland viele Herzen erobert. Das absolute Top-Resultat der 22-Jährigen, die daheim alle „Nafi“ nennen: 1,98 Meter im Hochsprung. Nie flog eine Athletin in einem Siebenkampf höher. Das Resultat hätte auch im Einzelwettbewerb zum Sieg gereicht.

Weitere Hausrekorde stellte die 1,84 Meter große Modellathletin im Speerwurf (53,13 m), im Weitsprung (6,58 m), im Hürdensprint (13,56 sec) und über 800 Meter (2:16,54 min) auf. Den belgischen Rekord, den sie seit Juni 2014 mit 6.508 Punkten hielt, pulverisierte Nafi Thiam regelrecht. Das belgische Königspaar Filip und Mathilde gratulierte gleich zweimal – zunächst telefonisch, im Rahmen des Diamond League-Finales am vorletzten Freitag in Brüssel dann sogar persönlich.

Belastende Emotionen

Die Macher des Meetings hatten den Frauen-Hochsprung zusätzlich ins Programm gehievt. Die Quasi-Lokalmatadorin bewältigte 1,93 Meter und gewann. „Es war mein erster Wettkampf nach der Rückkehr aus Rio. Ich habe seitdem kaum trainiert und konnte nicht erwarten, dass ich so gut abschneide“, erklärte die Olympiasiegerin. „Die Emotionen nach meiner Goldmedaille haben mir sehr zugesetzt. Jetzt ist Zeit zum Erholen und Olympia zu genießen.“

Groß, athletisch, attraktiv – ihr Rio-Coup brachte Nafi Thiam auf die Titelseiten zahlloser Gazetten. Mit ihr Schritt zu halten, fällt nicht leicht. Ihr Gang ist federnd und raumgreifend, ihr Auftreten zielstrebig. Als Siebenjährige entdeckte die Tochter einer Belgierin und eines Senegalesen ihre Leidenschaft für die Leichtathletik. „Sie bedeutet mir beinahe alles. Sie macht mich glücklich und sorgt dafür, dass ich ein nicht alltägliches Leben führen kann“, bekennt das Riesen-Talent.

Hausaufgaben im Zug gemacht

Die harte Arbeiterin fährt nun die Ernte ihrer Aussaat ein. „Ich werde bezahlt, damit ich täglich meiner Leidenschaft frönen kann. Es wird mir ermöglicht, viel zu reisen. Das ist etwas, wozu ich als Kind selten die Gelegenheit bekam“, erklärt die Weltklasse-Siebenkämpferin, die nach ihrem Gold 2013 bei der U20-EM in Rieti (Italien) im Sommer darauf in Zürich (Schweiz) EM-Bronze erkämpfte.

„Da war ich die Jüngste. Das hat mir echt einen Kick gegeben“, verrät Nafi Thiam, die im grenznahen Lüttich lebt. „Mit 16 bin ich jeden Tag von meinem Dörfchen bei Namur nach Lüttich gependelt, um dort zu trainieren. Eineinhalb Stunden hin und eineinhalb Stunden zurück. Meine Hausaufgaben habe ich im Zug gemacht. Das war für mich normal, weil ich es gern getan habe. Jetzt wohne und trainiere ich in Lüttich und es läuft alles viel reibungsloser“, sagt die Geographie-Studentin.

Systematischer Feinschliff

Den zielgerichteten Aufbau verantwortet ihr Trainer Roger Lespagnard. 1968 verbesserte der siebenfache belgische Zehnkampf-Meister den Landesrekord auf 7.297 Punkte und wurde Olympia-17. 1972 folgte Platz 14, 1976 Platz 19. Technischer Direktor des belgischen Leichtathletikverbandes, Konditionstrainer und Ministerialdirigent – weitere Stationen des heute 69-Jährigen, der sich auch in der Kommunalpolitik engagiert.
 
Seine Musterschülerin hat Roger Lespagnard zu einer Top-Athletin geformt – und ihr Gelassenheit vermittelt. „Es hat Momente gegeben, da habe ich zu allem ja gesagt. Bis ich ausgepumpt zusammenbrach und feststellte, dass mir kaum Luft zum Atmen blieb“, blickt Nafi Thiam kritisch zurück. „Ich habe gelernt, reservierter zu werden und mich nicht von den Erwartungen anderer unter Druck setzen zu lassen.“

Unmut über Hetzkampagnen

Das war 2013 noch anders. „Da stand in allen Zeitungen, dass ich bei der U20-EM unbedingt Gold holen wolle. Aber das hatte ich niemals gesagt. Diese Artikel und die ganzen Hetzkampagnen drum herum haben mich wahnsinnig aufgeregt. Sie haben mich enorm unter Druck gesetzt“, berichtet die Vorzeige-Sportlerin, die dennoch U20-Europameisterin wurde.

„Aber ich konnte den Sieg nicht genießen. Daraus habe ich gelernt. Ich lese keine Zeitungen mehr, wenn etwas über mich drinsteht. Zuspruch durch Fans oder mir Nahestehende schätze ich nach wie vor, aber Leute, die mir sagen, was ich zu tun oder zu lassen habe, ignoriere ich“, sagt Nafi Thiam. „Für meine Karriere sind allein mein Trainer und ich verantwortlich. Meine Entwicklung ist nahezu perfekt.“

Fester Wille: Ruhe bewahren

Ganz gleich wie es weitergeht: Wo immer sie erscheint, wird Nafi Thiam fortan im Blickfeld stehen. Und – wenn Muskeln und Sehnen halten – mit Erwartungen konfrontiert werden. „Ich bin noch jung, mein Körper spielt mit, zurzeit jedenfalls. Ich weiß aber, dass der Körper eines Leistungssportlers ein Haltbarkeitsdatum hat. Die momentane Belastung kann ich nicht bis zu meinem 60. Lebensjahr durchhalten“, bleibt die 22-Jährige realistisch.

„Was meine Zukunft betrifft, versuche ich vor allem Ruhe zu bewahren und keine großen Pläne zu schmieden. Denn Stress ist selten leistungsfördernd. Es wird sehr viel von Leistungssportlern erwartet und das ist nicht immer leicht. Wir sind keine Maschinen“, bekennt Nafi Thiam – wohl wissend, dass sie bei der WM im nächsten Sommer in London (Großbritannien) die Gejagte sein wird. Aber Herausforderungen waren nie etwas, was die Belgierin abgeschreckt hat. Im Gegenteil.

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