Neue Fehlstartregel (fast) problemlos akzeptiert
Kann man eine der ältesten gültigen Regeln in der Leichtathletik einfach so abschaffen? Seit 1912, also 90 lange Jahre, war es gang und gäbe, jedem Athleten auf den Laufstrecken einen Fehlstart zuzubilligen, der ungesühnt blieb. Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist die Zeitrechnung nun eine andere. Der Weltverband IAAF hat seinen Beschluss, nach einem Frühstart jeden weiteren zu schnell startenden Läufer rigoros der Bahn zu verweisen, in die Tat umgesetzt.
Nach 90 Jahren weht frischer Wind im Regelwerk
Der Aufschrei war groß in der internationalen Leichtathletikszene – viele wollten nicht mit der Tradition brechen, fühlten sich in ihren Rechten als Läufer verletzt, sahen die Regeländerung als keineswegs gerechtfertigt an. Vor allem im Lager der Sprinter kamen Diskussionen auf. Kein Wunder, denn dort werden erfahrungsgemäß die meisten Fehlstarts verursacht. Heftiger Widerstand regte und regt sich beständig in den USA. Craig A. Masback vom amerikanischen Verband USA Track & Field schrieb in einem Artikel, dass die veränderten Startbedingungen überhaupt nicht nachzuvollziehen seien. Seiner Ansicht nach gäbe es keine Untersuchung, die belegt, dass sich in der Vergangenheit Fehlstarts gehäuft hätten.Mehr Attraktivität durch straffere Zeitpläne
Doch wem ist nicht mindestens ein internationales Rennen in Erinnerung, bei dem gleich mehrere voreilige Sprinter den Start über das erträgliche Maß hinauszögerten ... Spannung am Ende gleich null, zumindest bei den Fernsehzuschauern – sollten sie nicht schon vorher den Sender gewechselt haben. Und hier liegt wohl das Hauptproblem. Generell kann das Umdenken in der IAAF durchaus auch wirtschaftlichen Interessen zugeschrieben werden. Im Kampf um Übertragungszeiten und Einschaltquoten zur Steigerung der Popularität der Sportart muss den Fernsehverantwortlichen entgegengekommen werden. Mit der neuen Regel gibt es nun die Möglichkeit, dass die vorab erstellten Zeitpläne auch weitgehend eingehalten werden.
Deutsche Läufer haben keine Probleme
Im Gegensatz zu den Amerikanern regt sich in Deutschland längst keiner mehr über die veränderte Regelung auf. Unsicherheit gab es zwar, aber in der Praxis verschwanden viele Bedenken, auch bei Mike Fenner, dem Deutschen Hallenmeister über 60 Meter Hürden: "Zuerst habe ich die neue Regel negiert, weil ich mich davon selbst betroffen' fühlte. Aber jetzt sieht man ja quer durch die Meetings, auch international, dass fast alle Sprints ohne Fehlstarts abgegangen sind." Ähnlicher Ansicht sind die meisten deutschen Läufer.
Esther Möller findet die Regel okay. "Ich habe damit kein Problem. Für die Zuschauer wird dann das Rennen auch spannender. Man muss sich eben zusammenreißen." Sprintmeister Tim Goebel wurde anfangs noch mit dem Wort "Schwachsinnig!" zitiert, wenn es um seine Meinung zur neuen Fehlstartregel ging. Davon ist nichts mehr zu spüren, im Gegenteil. "Super!" sagte der Leverkusener am Rande der Deutschen Hallenmeisterschaften in Leipzig. "Ich bin sowieso nicht so ein schneller Starter und riskiere damit eher keinen Fehlstart. Deswegen kommt es mir sehr entgegen, wenn auch andere nicht mehr so viel riskieren können."
US-Verband riskiert Auseinandersetzung mit IAAF
Anders ist das Bild in den USA, wo sich der Verband auf einen Disput mit der IAAF einlässt. Weil viele Top-Stars wie Maurice Greene oder Marion Jones immer noch ganz und gar nicht damit einverstanden sind, beim zweiten Fehlstart eines Laufes mit Disqualifikation rechnen zu müssen, wurde das Regelwerk in den Vereinigten Staaten noch einmal ganz genau gelesen. Mit dem Ergebnis, dass IAAF-Verordnungen nur bei internationalen Wettkämpfen zu befolgen sind. Also werden zwar die sogenannten IAAF-Permit- und Grand-Prix-Meetings auf amerikanischem Boden nach neuer Regel abgehalten, für US-Meisterschaften soll aber weiterhin die alte Fehlstart-Vorschrift gelten. Unstimmigkeiten sind da vorprogrammiert. Unklar ist zum Beispiel, ob unter diesen Bedingungen erzielte Rekorde vom Weltverband noch anerkannt werden. Es wird sich erst noch zeigen, was den Amerikanern letztendlich lieber ist: auf einen Weltrekord oder einen Fehlstart zu verzichten.
*** Den genauen Wortlaut der neuen Fehlstartregel finden Sie in unserer Rubrik Wettkampforganisation! ***