Paralympics-Reform mit großem Haken
Wer weiter springt oder schneller läuft, gewinnt: Diese an sich logische Regel galt bei den Leichtathletik-Wettbewerben der Paralympics bisher nicht. Für Rio 2016 wird dies nun geändert, die Medaillen werden in Brasilien nicht mehr in gemischten Klassen vergeben. Doch für die Sportler hat diese Reform einen großen Haken.
Denn die Zahl der Leichtathletik-Entscheidungen wird bei 166 bleiben. Das heißt, dass manche Disziplinen für bestimmte Leistungsklassen nicht mehr angeboten werden - und einige Athleten im schlimmsten Fall zu Hause bleiben müssen."Ich fürchte schon, dass einige Athleten hinten runterfallen werden", sagt Deutschlands 100-Meter-Paralympicssieger, Heinrich Popow, dem SID: "Das ist leider der Preis für die Professionalisierung. Aber ich verlange und erwarte vom IPC Feingefühl. Es sollte für jeden was dabei sein."
Die Funktionäre stimmen zu. "Man muss darauf achten, dass alle Behinderungsklassen berücksichtigt werden und die Reduktion vielleicht nur bewirkt, dass einige Sportler ihre Zweit- oder Drittwettkämpfe verlieren", sagt Karl Quade, bei den letzten neun Paralympics jeweils Chef de Mission.
Reform mit Problemen
Und Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS), erklärt: "Ein bisschen schwanger geht nicht. Eine solche Reform bringt immer auch Probleme mit sich. Es ist nun die Herausforderung, darauf zu achten, dass es nicht zu viele individuelle Nachteile gibt."
Eine Aufstockung des Programms wäre für Heinrich Popow keine Lösung: "Da würde eine Überreizung einsetzen." Auf Zweit- oder Drittstarts zu verzichten, sei dagegen das geringste Problem. "Jeder hat ohnehin eine Disziplin, auf die er sich konzentriert. Der Rest ist Zubrot", sagt Heinrich Popow, der in London (Großbritannien) auch Bronze über 200 Meter sowie mit der 4x100-Meter-Staffel gewann und Vierter im Weitsprung wurde.
Grundsätzlich wird die Regeländerung, die das Board des Internationalen Paralympischen Komitees noch formell absegnen muss, positiv gesehen. "Die Entscheidung ist gut und richtig, weil es nun nachvollziehbarer und fairer wird. Das IPC hat aus dem allgemeinen Unmut gelernt", sagt Julius Beucher.
„Einfach unsäglich“
In London ging Silber im Kugelstoßen der Frauen aufgrund der Klassen-Quotienten zum Beispiel für 5,90 Meter weg, während eine andere Athletin mit 7,64 Metern als Vierte ohne Medaille blieb. "Das war nicht nur schwer vermittelbar und unfair, so etwas schadet dem Sport", meint Heinrich Popow.
Karl Quade sagt gar: "Das vorherige Wettkampfsystem war Mist, einfach unsäglich." Man habe in der Leichtathletik "Funktionen eingesetzt, die so im Sport nicht funktionieren. Die Kurve stieg zu steil an, irgendwann waren die Leistungen gar nicht mehr definiert."
Die endgültige Lösung kann die aktuelle aber nicht sein. "Die Leichtathletik ist aufgefordert, die Monowettbewerbe nicht als das Ende zu sehen, sondern weiter zu denken", fordert Karl Quade. Ziel müsse ein ausgewogenes System für zusammengelegte Klassen sein, um möglichst vielen Athleten den Start zu ermöglichen und trotzdem fair und transparent zu sein.
Wintersport als Vorbild
"Im Wintersport funktioniert das sehr gut", meint Karl Quade: "Da wurden in den letzten Jahren sehr viel Hirnschmalz und wissenschaftliche Untersuchungen eingesetzt. Die Leichtathletik hat das leider versäumt."
Die Regelung für 2016 musste mit Hinblick auf die Qualifikation und die Trainingsvorbereitung der Athleten jetzt schon festgelegt werden. "Wenn es kurz vorher Änderungen gäbe, wäre das eine Katastrophe für Athleten, die sich auf bestimmte Wettbewerbe vorbereitet haben, aber auch für den Verband, der in diesen Sportler investiert hat", sagt Karl Quade. Doch die Suche nach der ultimativen Lösung hat gerade erst begonnen.
Quelle: Sport-Informations-Dienst (sid)