Paula Radcliffe spielt auf Zeit
Die Würfel sind noch nicht gefallen. Paula Radcliffe, "Everybody's Darling" auf der britischen Insel, hat die Qual der Wahl. Welche Strecke soll sie laufen bei der WM in Helsinki (6. bis 14. August), die 10.000 Meter oder den Marathon? Oder sogar beide Distanzen?
Paula Radcliffe hält sich noch bedeckt (Foto: Chai)
"Das Training bleibt gleich, ganz egal ob ich auf der Bahn oder auf der Straße starte", erklärte die 31-jährige Engländerin aus Loughborough, "ich warte ab, wie es im Training läuft." Sie spielt auf Zeit.Das Desaster bei den Olympischen Spielen in Athen, als sie bitter enttäuscht beide Rennen vorzeitig beendete, schwirrt noch immer in ihrem Kopf herum. "Dieses Erlebnis habe ich nicht vergessen. Doch es gehört der Vergangenheit an", sagte Paula Radcliffe, die sich momentan im französischen Pyrenäen-Ort Font Romeu aufhält, dem "Centre National d'Entrainement en Altitude" (Nationales Zentrum für Höhentraining) in 1.850 Meter Höhe, "ich weiß, was ich kann. Und wenn ich gesund bin, muss ich mir keine Sorgen machen."
Frohen Mutes zurück
Frohen Mutes dachte Paula Radcliffe zurück an ihren beinharten Zweikampf in New York, als sie nach einem denkwürdigen Finish die Kenianern Susan Chepkemei besiegte. Damals, nur acht Wochen nach dem Debakel in der Hitze Griechenlands, feierte sie eine grandiose Rückkehr auf die Marathon-Bühne und brachte alle neunmalklugen Skeptiker zum Schweigen, die bereits ein jähes Ende der "Ära Radcliffe" prophezeit hatten.
Nach ihrem dritten Erfolg beim London-Marathon in diesem Frühjahr in 2:17:42 Stunden, der bis dato schnellsten Zeit, die je in einem reinen Frauen-Rennen erreicht wurde, strotzt sie wieder vor Selbstbewusstsein. Kein Geringerer als Haile Gebrselassie, der viermalige Weltmeister über 10.000 Meter, machte sich in diesen Tagen zu ihrem Fürsprecher und riet ihr zum Double in Helsinki.
Hin zum Marathon?
"Der Marathon ist für sie der beste Wettbewerb", meinte "Gebre", der fest davon überzeugt ist, dass Paula Radcliffe (Bestzeit: 2:15:25 h in London 2003) weit schneller sein wird als Catherine Ndereba, die amtierende Weltmeisterin aus Kenia, zwei Jahre zuvor in Paris (2:23:55 h). "Aber auch über 10.000 Meter kann sie Gold gewinnen", fügte der kleine Äthiopier hinzu, obwohl er weiß, dass seine Landsfrauen alles tun werden, um die Frontrunnerin bei ihrem Alleingang zu stoppen. "Natürlich werden sie als Team laufen, um ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen."
Da Berhane Adere als Weltmeisterin eine Wildcard bekommen wird, müsste sich Paula Radcliffe auf den 25 Runden mit einem starken Quartett aus Äthiopien auseinandersetzen. Nicht zu vergessen die starken Langstrecklerinnen aus China, die stets für eine Überraschung gut sind.
Gute Arbeit der Therapeuten
Paul Radcliffe ziert sich noch mit einer Entscheidung. Sie wartet ab und preist lieber die Heilkünste ihrer drei Physiotherapeuten. "Rone Thompson, Pippa Rippon und Vaughan Cooper haben hart gearbeitet, um meine Rückenprobleme zu beseitigen", verteilte sie ein dickes Lob an die medizinische Abteilung.
Vieles deutet hin auf einen Start über 10.000 Meter. In Sevilla, 1999 Schauplatz der WM, suchte Paula Radcliffe auch die Flucht nach vorn, in bewährter Manier, doch konnte sie in der finalen Schlussrunde dem fulminanten Antritt der Äthiopierin Gete Wami nicht mehr folgen. Gete Wami rannte 30:24,56 Minuten und Paula Radcliffe 30:27,13.
Britischer Coup wieder mal fällig?
In Sydney blieb ihr lediglich der undankbare vierte Olympia-Platz, obwohl sie auch dort lange das Geschehen diktiert hatte. Gold über 10.000 Meter schnappte sich Paula Radcliffe in München anno 2002, als sie im strömenden Regen des Münchner Olympiastadions wie ein Uhrwerk ihre Bahnen zog und der zweitplatzierten Irin Sonia O'Sullivan satte 46 Sekunden abknöpfte. Mit 30:01,09 Minuten schob sich sich an jenem Abend auf die zweite Position der ewigen Weltbestenliste hinter der Chinesin Junxia Wang (29:31,78 min in Peking 1993), deren Fabelzeit allerdings stets von Doping-Verdächtigungen begleitet wird.
Die Briten wünschen ihr den WM-Titel von Herzen. Denn lange, viel zu lange mussten sie sich gedulden. Liz McColgan, die Power-Frau aus Schottland, deren älteste Tochter Eilish das Lauftalent der Mama geerbt hat, wurde 1991 in Tokio Weltmeisterin über 10.000 Meter. Immerhin vierzehn Jahre sind seither ins Land gezogen. Ob Paula Radcliffe in Helsinki gleichziehen kann? Oder ob sie ihr Heil auf der klassischen Distanz suchen wird? Oder gar auf beiden Strecken?
Die Antwort auf diese Frage, die alle brennend interessiert, weiß nur eine: Paula Radcliffe.