Rede zu Ilse Bechtholds Geburtstag
Ilse Bechthold feierte vor einer Woche (18. November) ihren 80. Geburtstag. Theo Rous, Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), hielt im Rahmen eines Empfanges in Frankfurt, den der Verein Eintracht Frankfurt und der DLV initiiert hatten, eine Rede, die Sie hier nachlesen können.

Deshalb erwähne ich auch erst gar nicht, dass sie nicht nur eine Diskuswerferin und Kugelstoßerin der deutschen Spitzenklasse war, mit Bestleistungen von 47,41 Meter und 14,41 Metern, sondern auch eine exzellente Handballerin, dass sie Frauenwartin, danach Vizepräsidentin im DLV-Präsidium war, NOK-Mitglied, Gutachterin der Sporthilfe, wo sie zuweilen ihren Freund Josef Neckermann mit ihren am Athleten orientierten Prioritäten zur Weißglut brachte, dass sie 1972 Mitglied der IAAF-Frauenkommission und schließlich Vorsitzende dieser Kommission war, ein Vierteljahrhundert lang, und auch die Orden lasse ich weg, im DLV jedenfalls hast Du, liebe Ilse, alles abgeräumt, was es gibt, alles.
Du bist ausgeehrt. Mit besonderem Nachdruck lasse ich natürlich die "Women and Sport Trophy" für Europa aus, die Dir das IOC in diesem Jahr verliehen hat. Diese Ehrung gibt es für jeden Kontinent nur einmal, und es sind einmalige Persönlichkeiten: Die große Jackie Joyner-Kersee aus den USA, Fridah Bilha Shiroya aus Kenia, Naila Shatara-Kharroub aus Palästina, Veitu Apana Diro aus Papua-Neuguinea, unglaublich, und Ilse aus Biber.
Die Karriere
Was das Leben der Ilse Bechthold mit seinen weit gespannten Dimensionen, den regionalen, nationalen und globalen, zu einem ganz besonderen gemacht hat, ist natürlich die Leichtathletik im allgemeinen und die Frauenleichtathletik im besonderen, Dimensionen, die von den heimatlichen Wurzeln in Frankfurt, in Hessen und im DLV bis zum leichtathletischen Olymp von IAAF und IOC reichen.
Ilse Bechthold war von Beginn ihrer ehrenamtlichen Karriere etwas Besonderes. Schon der Einstieg in diese Laufbahn war außergewöhnlich. Fritz Steinmetz erinnert sich: Als der DLV 1969 im Präsidium eine Nachfolgerin als Frauenwartin für Hilde Landgrebe suchte, schlug Fritz seine Landsfrau Ilse Bechthold vor. Ganz geheuer war ihm nicht. Sie hatte noch nie ein Amt in DLV-Gremien gehabt, nicht mal im Kreis oder Landesverband, geschweige im DLV, und dann gleich ins Präsidium, dazu noch als Frau? Das war ungewöhnlich, funktionierte aber perfekt. Sie wurde einstimmig gewählt. Ilse Bechthold übte dieses Amt mit einer solchen Kompetenz aus, dass der Verband aus der Frauenwartin die Vizepräsidentin mit dem Schwerpunkt Frauenfragen machte.
Frauen im Sport
Dass Frauenfragen überhaupt zu einer Sache von Frauen gemacht wurde, war ein großer Fortschritt. Frauenfragen im Sport und in der Leichtathletik waren Männersache, auch noch nach dem 2.Weltkrieg. Im Zuge der Neuorganisation der Leichtathletik wurden auf der denkwürdigen Arbeitstagung mit den Vertretern der Landesverbände am 14. bis 16.November 1947 in Unteröwisheim die Ämter und deren Besetzung für ein späteres Präsidium ausgeguckt.
Aus der Versammlung kam der Vorschlag: "Frauenwart wird Tischi Martens." Die Begründung war einfach und einleuchtend:" Er ist der Schönste." Das reichte als Qualifikation. Tischi Martens war allerdings ein Volltreffer und ausgewiesener Frauenversteher, wie mir Tischi Martens selbst versichert hat.
Diese Geschichte hatte aber bei mir ein halbes Jahrhundert später ein Deja-vu-Erlebnis besonderer Art aktiviert. Nach Ilses Ausscheiden 1993 hatte Gudrun Löffler das Amt der Frauenwartin übernommen und auch de facto beibehalten, auch als sie aus dem Präsidium ausgeschieden war, weil die beiden anderen Frauen im Präsidium, Heide Rosendahl und Hanne Ziemek, das Amt nicht wollten. Es sollte aber de jure und auch politisch an eine Vize-Präsidenten-Position angebunden sein. So bin ich Frauenbeauftragter geworden, ob aus denselben Gründen wie der schöne Frauenflüsterer Tischi Martens, würde zumindest meine Frau bestreiten.
Wenn ich zurückblicke, hatte Ilse Bechthold eigentlich nichts von dem Erscheinungsbild an sich, das ich gemeinhin mit emanzipierten Frauen assoziiere. Ich kann mich nicht an theoretische Reflexionen und Diskussionen über die Rolle der Frau an sich erinnern. Sie war ganz einfach und selbstverständlich für die Athletinnen da, verbindlich, authentisch, unprätentiös, aber nachdrücklich und wirkungsvoll. Und sie hatte überhaupt nichts gegen Männer, ließ aber auch keinen Streit, wenn nötig, aus. Was sie auszeichnete, war das diplomatische Geschick, aber auch die unerschrockene Hartnäckigkeit, mit der sie im von Männern dominierten Wildgehege der IAAF mit dem freilaufenden Alpha-Tier Primo Nebiolo die Sache der Frauen beförderte.
Entwicklung der Frauenleichtathletik
Unter Ilse Bechthold hat sich national und international die Welt der Frauenleichtathletik gewaltig verändert. Ihre Zielgruppe waren in erster Linie die wettkampftreibenden Leichtathletinnen. Im DLV hat sie, obwohl die Funktionsbeschreibung der Frauenwartin das gar nicht vorsah, dieses Amt umfunktioniert zur real existierenden Sportwartin, die sich die volle Zuständigkeit für die Frauen-Nationalmannschaft erkämpft hat. Offiziell zuständig war der Sportwart, auch für die Frauen. Das ist ihr gelungen, ohne dass ihre Freundschaft zum Sportwart Otto Klappert gelitten hat. Und man sollte auch nicht vergessen: Ihr Anliegen ist die Frauenleichtathletik, aber sie hat immer die ganze Leichtathletik im Visier, auch die der Männer, auch den Breitensport, auch den Schulsport.
Wenn man angemessen würdigen will, was Frauen wie Ilse Bechthold geleistet haben, muss man sich vor Augen halten, was sie vorgefunden haben. Im Geburtsjahr von Ilse Bechthold wurden Deutsche Meisterschaften nur in vier Wettbewerben durchgeführt, gegenüber 22 der Männer. Es galt auch Jahre danach die Regel, daß keine Frau in Deutschland an mehr als zehn sportlichen Veranstaltungen im Jahr teilnehmen dürfe.
Das war die Zeit, als der Bremer Arzt Dr. Junkers-Kutowsky schrieb: "Der Frau sollte es weniger auf die Leistung ankommen", und empfahl den Frauen zwar das Laufen, Springen und Werfen, allerdings mit der Begründung, der grüne Rasen habe eine enorm beruhigende Wirkung auf Frauen und außerdem belasteten die leichtathletischen Übungen kaum das Gehirn. Carl Diem, der große Carl Diem, brachte die Zielsetzung von Sport und Leichtathletik auf den Punkt: "Die Männer wehrfähig, die Frauen gebärfähig." Basta! Und was die Vertretung von Frauen in den Entscheidungsgremien in Sport und Gesellschaft angeht, hatte sich seit dem Apostel Paulus wenig geändert: "Mulier taceat in ecclesia" – Die Frau hat in der Versammlung den Mund zu halten.
Unsere Gesellschaft wies auch noch im 20.Jahrhundert dazu Parallelen auf. Der § 1356 des Bürgerlichen Gesetzbuches lautete: "Die Frau ist berechtigt, berufstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar war." Mit den Ehrenämtern war es ähnlich. Was vereinbar war, bestimmten in der Regel Männer. Medizinische Erkenntnisse wurden kaum zur Kenntnis genommen oder aber durch Emotionen betagter Männer verdrängt. Der IAAF-Präsident Adriaan Paulen war bis an sein Lebensende nicht davon abzubringen: "Frauen, die 8oo Meter laufen, sterben alle an Schwindsucht." Nomen est omen: Vermutlich war Paulen mit dem Apostel Paulus weitläufig verwandt.
Ich selber gestehe zerknirscht ein, gewisse atavistische Macho-Rückstände in meiner Seele zunächst nur mühsam aufgearbeitet zu haben. Vielleicht erinnerst Du Dich noch, liebe Ilse, an eine kleine Glosse in "Nord-Rhein-Leichtathletik", wo ich mich in die Diskussion um die Einführung des Hammerwerfens eingemischt habe:
"Die Sache mit Erika". Erika war meine Spielgefährtin in Kinderjahren, Tochter unseres Metzgermeisters, einen Kopf größer als wir Jungens, machte alles mit und war uns bei Sport und Spiel meist überlegen. Bis ihr Vater, der Metzgermeister, eines Tages eingriff mit den klassischen Worten: "Musse denn all dat machen, wat die Jungens machen." Er hatte von einem Wettbewerb erfahren, im Hof hinter unserem Haus, in dem Erika uns endlich mal eindeutig unterlegen war. Es ging darum, wer beim Pinkeln an der Hauswand am höchsten kam. Da hatte Erika keine Chance. Ich kann nichts dafür: Bei der Einführung des Hammerwerfens stieg dieser klassische Satz des Metzgermeisters aus den genetischen Abgründen meines Unterbewussteins hoch: "Musse denn all dat machen, wat die Jungens machen." Liebe Ilse, Du hast mir verziehen, hast sogar diesen Aufsatz am Schwarzen Brett Deines Instituts ausgehängt.
Es war gar nicht so einfach, neue Wettbewerbe für Frauen einzuführen. Man bewegte sich zunächst sozusagen im Untergrund, in der Illegalität, schmuggelte hin und wieder bei kleinen Sportfesten eine Frau ins Feld der Männer, was verboten war, bis dann, der Realität sich beugend, unsere Wettkampfpäpste ihren Segen gaben. Ich habe also tätige Reue geübt und im Nordrhein dafür gesorgt, dass die Bemühungen von Dir und Karin Sonneck um das Hammerwerfen für Frauen in unserem Verband eine nachhaltige und erfolgreiche Unterstützung erfahren hat. Heute würde ich auch unseren Metzgermeister überzeugen: Frauen können alles, wenn auch nicht weiter, schneller und - wie gesagt - eben auch nicht immer höher als die Männer, aber viel, viel schöner.
Die Lebensleistung
Alles in allem: Die Lebensleistung der Ilse Bechthold ist eine Erfolgsstory. Das heißt nicht, dass es nicht auch heute noch unerfüllte Wünsche gibt, dass noch Pläne in der Schublade liegen oder zumindest im Hinterkopf arbeiten. Wir Männer sollten uns nicht in Sicherheit wiegen. Es mehren sich ja die Stimmen, die den Männern raten, sich allmählich nach einem Gleichstellungsbeauftragten umzusehen.
Aber wir erinnern uns: Vier Wettbewerbe für Frauen gab es in ihrem Geburtsjahr. Wenn man Ilse so ansieht, kann das noch nicht lange her sein. Im Jahre 2007 gibt es – mit einer Ausnahme – keinen klassischen Wettbewerb in der Leichtathletik mehr, der den Frauen vorenthalten ist. Die Ausnahme ist der Zehnkampf. Aber ich bin sicher, dass aus dem Siebenkampf der Frauen wie bei den Männern der Zehnkampf wird.
Das komplette Mittel- und Langstreckenprogramm, einschließlich Hindernislauf, Hammerwerfen, Stabhochspringen, das alles ist nicht nur ein Beitrag zur Gleichberechtigung, sondern auch eine ästhetische Bereicherung unserer Sportart.
Und was den Apostel Paulus mit seinem Sprechverbot in Versammlungen angeht: Ich denke, dass der Sport mit seinen Protagonistinnen wie Ilse Bechthold dazu beigetragen hat, dass Frauen mehr und mehr in Versammlungen aller Art und überall auf der Welt das Wort ergreifen, um den Einfluss der Frauen nicht nur im Sport zu befördern. Wer hätte es vor wenigen Jahren noch für möglich gehalten, dass selbst in islamischen Ländern Sportlerinnen, Olympiasiegerinnen im Parlament und auf Ministerposten sitzen?
Der Mensch
Für mich ist aber nicht nur beeindruckend, was Ilse Bechthold tut, sondern wie sie ist. Um es so auszudrücken, dass es auch für Soziologen und Psychologen verständlich ist: Ilse Bechthold verfügt in hohem Maße über das, was der amerikanische Psychologe Daniel Coleman als Parallele zum IQ, dem Intelligenzquotienten, den EQ nennt, den Emotionalen Quotienten, und beschreibt ihn als die "mit Intelligenz gepaarte Emotionalität".
Für mich drücke ich es so aus: Ilse Bechthold ist ein Mordskumpel, mit dem man Pferde stehlen kann, ohne dass es jemand merkt. Das heißt: Offen und gradlinig auf Menschen und Probleme zugehen. Helfen, wo es gerade nötig ist, auch auf informellen Wegen. Wer sich an sie wandte, kam in den Genuss ihres doppelt und dreifach geknüpften Beziehungsnetzes aus Sport, Hochschule, Politik, Wirtschaft und wer weiß noch was.
Sich nicht zu schade sein, auch subalterne Tätigkeiten auszuüben: Ich erinnere mich, wie sie Jahr für Jahr Mittel für die Nationalmannschaften akquirierte, z.B. Bekleidung, die sie dann zu Hause mit ihrem Mann Horst, ihrem treuen Rückhalt in allen Lebenslagen, eingepackt, verschickt und das Porto bezahlt hat. Von ihr konnten sich Menschen, vor allem die Athletinnen und Athleten, in ihren unterschiedlichen Stärken und Fähigkeiten, aber auch Schwächen und Bedürfnissen angenommen fühlen.
Bei aller Notwendigkeit des Sachbezugs und der Professionalität von Prozessen und Entscheidungen in Organisationen wie DLV und IAAF: Je anonymer und versachlichter eine Organisation ist, umso wichtiger ist der Ausgleich durch Personen wie Ilse Bechthold. Wo sie auftritt, breitet sich menschliche Wärme aus. Dafür, und für alles, was Du geleistet hast, dankt dir heute die Leichtathletikfamilie.
Wir wünschen Dir, dass Dir selbst auch in Zukunft die gleiche Anerkennung und Herzlichkeit Deiner Umwelt zuteil wird, wie sie Dir in der Vergangenheit entgegengebracht wurde und wie Du sie Deinen Mitmenschen angedeihen lässt, wir wünschen Dir noch lange Spaß am aktiven Volleyballspielen und Schifahren, dazu den Genuss von Erfolgserlebnissen in einer dopingfreien Leichtathletik und bei der Erziehung von Boxer Queenie, und über allem Glück, Zufriedenheit und Gesundheit.
Liebe Ilse, jetzt bin ich doch viel ernster und nachdenklicher geworden als ich wollte. Da müssen wir wieder raus. Ich helfe mir dann immer durch die Flucht in Albernheiten, und ich weiß, Du fasst es nicht als Respektlosigkeit auf. Man kann Respekt auch unernst ausdrücken. Sie alle kennen den alten Abzählreim für Kinderspiele auf den Namen Ilse: Ilse-Bilse, niemand willse, kam der Koch, nahm se doch. Diesen Vers hat ein zeitgenössischer Dichter kongenial variiert. Der hat allerdings um Anonymität gebeten, und deshalb verrate ich auch den Autor Heiner Henze nicht. Ilse-Bilse, jeder willse, auch der DLV ist stolz auf diese Frau.“