Renaud Lavillenie mit ein wenig Hilfe von oben
Die Latte liegt bei 5,71 Meter. Ein junger, schmal gebauter Franzose greift seinen Stab, nimmt Anlauf, schwingt sich in die Höhe. Er überquert die Latte, aber er berührt sie. Sie wackelt, springt auf der Auflage auf und ab, rutscht nach vorne – doch dann bleibt sie liegen. Dieser Versuch ist bezeichnend für das vergangene Wochenende von Renaud Lavillenie, dem bei den Hallen-Europameisterschaften in Turin (Italien) so gut wie alles gelang.
„Heute war der Gott des Stabhochsprungs auf meiner Seite“, sagte der 22-Jährige nach dem Wettkampf. „An jedem anderen Tag wäre die Latte gefallen.“ Auch die 5,76 Meter meisterte er auf Anhieb, egalisierte anschließend im ersten Versuch seine Bestleistung von 5,81 Metern und sicherte sich so seinen ersten internationalen Titel. Für Pavel Gerasimov (Russland) und Alexander Straub (LG Filstal) bedeuteten 5,76 Meter die Plätze zwei und drei.Schon in der Qualifikation beeindruckte der nur 1,76 Meter große und 69 Kilogramm leichte Franzose mit einer souveränen Vorstellung. Ganz ohne Fehlversuch und mit übersprungenen 5,70 Metern zog er ins Finale der besten Acht ein. Nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass Titelverteidiger Danny Ecker (TSV Bayer 04 Leverkusen) als Qualifikations-Neunter am Sonntag beim Endkampf zuschauen musste.
Mit Bestleistung ins neue Jahr
Mit Renaud Lavillenie ganz oben auf dem Siegerpodest der Hallen-EM hatten vermutlich nur Wenige gerechnet. Doch wer im Vorfeld aufgepasst hat, der wusste, dass ihm ein Überraschungscoup durchaus zuzutrauen war. Am 6. Dezember des vergangenen Jahres überquerte er in Aulnay-sous-Bois zum ersten Mal die 5,81 Meter und verbesserte damit seine Bestmarke um elf Zentimeter. Nur fünf Franzosen sprangen bisher höher.
Mit diesem Höhenflug stiegen auch die Erwartungen des für den Cognac AC startenden Athleten, der am 18. September seinen 23. Geburtstag feiern wird. „Vor Aulnay-sous-Bois war mein Ziel, das Hallen-EM-Finale zu erreichen. Mit dieser neuen persönlichen Bestleistung denke ich, dass eine Medaille im Bereich des Möglichen liegt“, prognostizierte er nach dem Wettkampf selbstbewusst.
Schließlich hatte er mit seinem Trainer Damien Innocencio, der ihn seit vergangenem September in Clermont-Ferrand im Herzen Frankreichs betreut, darauf hingearbeitet, seine Topform erst im Januar oder Februar zu erreichen. Dass dieser Plan aufging, deutete sich am 1. Februar in Moskau (Russland) an, als Renaud Lavillenie erneut 5,81 Meter überspringen konnte.
2008 bei Hallen-WM dabei
Für das Sprung-Leichtgewicht ist es erst die zweite Saison auf international hochklassigem Niveau. 2007 wurde er sowohl in der Halle als auch im Freien nationaler Juniorenmeister. In der anschließenden Hallensaison schraubte er seine Bestmarke von 5,45 auf 5,70 Meter und durfte beim Hallen-Europacup in Moskau erstmals in der Erwachsenenklasse die französischen Farben vertreten. Sein zweiter Platz und übersprungene 5,60 Meter bescherten ihm das Ticket für die Hallen-WM in Valencia (Spanien), wo er als Dreizehnter jedoch nicht das Finale erreichte.
In der olympischen Freiluft-Saison lief es anschließend nicht ganz nach Wunsch. Zwar verbesserte sich Renaud Lavillenie deutlich, für die ganz großen Höhen fehlte ihm aber, wie er später selbst sagte, noch das Gefühl: „Ich bin acht Mal zwischen 5,60 und 5,65 Meter gesprungen, aber an 5,75 Metern bin ich jedes Mal gescheitert. Man darf nicht vergessen, dass ich im Jahr zuvor nicht über 5,40 Meter hinaus gekommen bin.“ So wurde er nicht für die Olympischen Spiele in Peking (China) nominiert, was er jedoch nicht als Versagen, sondern vielmehr als Lernprozess abhakte.
Vater war der erste Trainer
Wie so häufig ist der Stabhochsprung auch bei den Lavillenies Familiensache. Renaud wurde von seinem Vater Gilles an die Disziplin herangeführt. Auf regionaler Ebene konnte dieser einst selbst kleinere Erfolge feiern - bei einer Bestleistung von 4,40 Metern dauerte es allerdings nicht lange, bis sein Sohn ihm den Rang abgelaufen hatte.
Als 18-Jähriger verabschiedete sich Renaud Lavillenie vom Elternhaus, machte Station in Poitiers und Bordeaux und trainierte bei Georges Martin, bevor er sich der Trainingsgruppe um Damien Innocencio in Clermont-Ferrand anschloss. „Ich habe schon mit vielen verschiedenen Personen zusammengearbeitet“, erklärt der frischgebackene Hallen-Europameister. „Deswegen bin ich vermutlich nicht ganz so verloren ohne Trainer wie manch andere Athleten.“
Bruder steht in den Startlöchern
„Manchmal glaube ich, er braucht gar keinen Trainer mehr. Er hat ein sehr gutes Verständnis von seiner Technik“, bestätigt auch Gilles Lavillenie und fügt hinzu, dass er ihn nie zum Üben habe zwingen müssen. „Er ist meist von selbst auf mich zugekommen und hat gesagt, er würde nicht genug springen, besonders im Winter.“ Nicht ohne Stolz berichtet der Vater davon, wie ihn eines Tages der ehemalige Trainer des Olympiasiegers Jean Galfione ansprach: „Als mir Maurice Houvion Komplimente über meinen Sohn machte, war das auch für mich fast wie ein Sieg.“
Noch immer leitet er in Cognac eine Gruppe junger Stabhochspringer. Unter ihnen: Der 17-jährige Valentin Lavillenie, das nächste Talent der sportlichen Großfamilie. „Technisch gesehen hat er schon Vorteile gegenüber seinem Bruder“, stellt der Vater fest. „Wenn er sich aus Renauds Schatten lösen kann, kann er es weit bringen.“
Neben dem Stabhochspringen spielt in der Familie Lavillenie auch das Reiten eine große Rolle. Vier Jahre lang besaß Gilles Lavillenie einen Reiterhof, sodass es nicht ausblieb, dass auch die insgesamt fünf Kinder in den Sattel stiegen. „Die Pferde sind für mich ein Hobby, ein Mittel, um mal raus in die Natur zu kommen“, berichtet Renaud Lavillenie und räumt ein, dass das Reiten nicht ungefährlich sei. „Heute habe ich dafür nicht mehr so viel Zeit.“ Nach seinen jüngsten Erfolgen wird er sicher noch seltener dazu kommen, sich diesem Hobby zu widmen.