Sigrid Eichner – Die Marathon-Oma aus Berlin
Jannick ist der Chef. Rote Hose, blaues Sweatshirt. O-Beine. In diesem Alter haben sie alle O-Beine. Jannick ist ein Jahr und vier Monate. Dafür ist er ziemlich proper. Das ist die Phase, in der sie alles in den Mund stecken: Kugelschreiber, Bleistift, Radiergummi, Brille. Mahlzeit. Sigrid Eichner, 63, passt heute auf ihren Enkel Jannick auf.

Enkel Jannick bestaunt die Medaillen der Oma (Foto: Texthochzwei)
Sie wohnt am Prenzlauer Berg, und dass sie so ruhig auf ihrem Sofa sitzt, ist die Ausnahme. Die Frau rennt, eigentlich tagein, tagaus. "Dibdibbelblubbblubb", macht Jannick.
Sigrid Eichner ist über 900 Marathons gelaufen. Sie ist die Frau mit den meisten Marathonläufen auf der Welt. Drei Männer haben mehr. Sie steuert scharf auf den 1000. zu.
Erst nur zwei Läufe im Jahr
Sigrid Eichner hat im Oktober 1979 mit dem Laufen begonnen. Beim Harzgebirgslauf über 40 Kilometer, der heute Brocken-Marathon heißt. Damals hat sie zwei Läufe im Jahr gemacht. Der zweite war der Rennsteiglauf über 45 Kilometer.
Es war schwierig, in der DDR Marathon zu laufen. Ihr erster war im November 1981 der Lichtenberger Marathon. "Das war der Berlin-Marathon des Ostens", sagt sie.
Jannick hat jetzt die Ersatzbrille der Oma auf. Nachdem er festgestellt hat, dass sie nicht gut schmeckt. Prompt haut er sich den Kopf an, weil er ohne Brille viel besser sieht als mit. Blöder Tisch, blöde Brille. Heulen – und schon vergessen.
Sigrid Eichner, Diplom-Ingenieurin, hat bei der Bauakademie Berlin gearbeitet. Projektanwendung und Datenverarbeitung. "Die Plattenbauten, die sie hier im Osten sehen, haben wir geplant", sagt sie. Gleich nach der Wende wurde die Akademie abgewickelt. Seit September 2000 ist sie Rentnerin, "Gott sei Dank", sagt sie.
Nach der Wende ging's ab
Nach der Wende ging es mit dem Marathonlaufen so richtig los. 1995 ist sie 97 Marathons gelaufen. 2003 gar 110. Aber sie läuft auch Ultras. 1994 den Spartathlon, von Athen nach Sparta, 245 Kilometer. Zählt nur als ein Marathon.
Oder Lissabon - Moskau. Vom 19. April bis 22. Juni 2003. Jeden Tag um die 80 Kilometer. Sie ist in Landwehrhagen (1994/1995) und in Cranendonck (2002) zehn Marathons an zehn Tagen gelaufen. In Hamburg, in den Teichwiesen, ist sie schon 17 Marathons in 17 Tagen gelaufen.
Insgesamt sind das 55.228,536 Wettkampfkilometer. Zum Vergleich: Die Erde hat einen Durchmesser von 12.765,28 Kilometer. Addiert man die Trainingskilometer hinzu läuft sie stramm auf die 100 000 Kilometer-Grenze zu. Da wechselt man beim Auto Motor oder Getriebe. Wenn die Dinger überhaupt so lang halten.
Laufen kostet
Jannick hat den Staubsauger angestellt. Er nimmt auch den Wischmopp, wenn er was versaut hat. "Ein großartiges Kind", sagt die Oma.
Das Laufen geht ganz schön ins Geld. Sigrid Eichner verdient nichts daran. Sie setzt zu. Startgebühren und Reisekosten: "Was die Startgebühren früher in Mark gekostet haben, kosten sie heute in Euro." Deshalb sind Marathons in Asien und den USA die Ausnahme. Und Läufe wie der Hamburg-Marathon am 18. April - 48 Euro Startgebühr - auch. Den macht sie aber trotzdem. Aber in Kienbaum, ein paar Kilometer hinter Berlin Richtung Frankfurt/Oder, hat sie sich weh getan. Zwischen Kilometer 60 und 65. Ein paar Runden ist sie dann doch noch gelaufen, bei der Deutschen Meisterschaft über 100 Kilometer am 27. März.
"Ich glaube", sagte sie nach genau zwölf Stunden, "ich habe einen Ermüdungsbruch im Fuß."
Sigrid Eichner beginnt den Tag normalerweise mit einem Besuch im Elixia-Ostkreuz. Dort schwimmt sie 2000 Meter. 1000 Kraul, 1000 Rücken.
Prima Anfang im Wasser
"Prima Anfang um in den Tag hineinzukommen", sagt sie. Dann macht sie Lauf- oder Krafttraining. Mal 15 Kilometer, mal mehr, mal weniger, wonach ihr grad der Sinn steht.
Im Volkspark Prenzlauer Berg: "Schön dort. Man kennt die Spaziergänger, die Läufer, und, am wichtigsten: die Hunde." Jannick bringt uns seine Holzlokomotive. Und wie macht die Lokomotive? "Blubblubblubblubblub."
Sie sei gar nicht ehrgeizig, behauptet Sigrid Eichner. Und dieser Zahlenschnickschnack ist ihr auch nicht geheuer. Aber jetzt ist sie so nahe an den 1000 dran, jetzt will sie es auch machen. "Fleißarbeit", sagt sie, "es ist eine Fleißarbeit." Es gibt einen Japaner, sie kennt ihn nicht, Gi'ichi Kojima, der will in Berlin seinen 1000. laufen. Sigrid Eichner wird bekniet, auch den 1000. zu laufen. Vor allem von Christian Hottas aus Hamburg, Chef des 100. Marathon Clubs, in den nur reindarf, wer mehr als 100 Marathonläufe hat.
Berlin würde wunderbar passen. Am 26. September, drei Tage vor ihrem Geburtstag. Aber bis dahin wären das .... "Nein, zuviele, ich weiß nicht, ob ich das will", sagt sie, vor allem nach der Geschichte mit dem Fuß.
Wohnung voller Medaillen, Plaketten und Figuren
Jannick bringt ihr ein paar Medaillen und hängt sie der Oma um. Und noch ein paar. Die Oma bekommt einen lahmen Hals von den vielen Medaillen. Sie weiß nicht mehr wohin mit Vasen, Figuren, Plaketten. "Die ganze Wohnung ist voll davon", sagt sie.
Im Jahr 2000 ist sie an der Lendenwirbelsäule operiert worden. Sie läuft nicht schmerzfrei. Ist nicht alles Spaß und Freude. Einmal hat sie sich bei einem Marathon verirrt. In Tschechien. In ihrer Verzweiflung lief sie in einem Dorf in einen Computerladen. Einer fuhr sie zur letzten Verpflegungsstation zurück. Die Odyssee war noch nicht zu Ende. Im Wald, es war schon dunkel, bog sie falsch ab. Albtraum. Bis sie unter einem Stein eine Startnummer fand, mit Wegbeschreibung. Ihre Startnummer hatte sie verloren. Zum Glück schien der Mond. Denn die Brille hatte sie nicht dabei. Im Wald.
Jetzt hat Jannick die gute Brille erwischt. Kann man nicht essen und wenn man sie aufsetzt haut man sich den Kopf. Aber dann knuddelt einen die Oma. Prima, so eine Oma.