Rudolf Harbig - 100. Geburtstag einer Legende
Mit seinen Bestzeiten von 46,0 Sekunden und 1:46,6 Minuten würde Rudolf Harbig noch heute um die Medaillen bei Deutschen Meisterschaften über 400 und 800 Meter mitlaufen. Seine Leistungen, die damals Weltrekorde waren, erzielte der Dresdner vor rund 75 Jahren auf tiefen Aschenbahnen. Gustav Schwenk erinnert an den deutschen Wunderläufer, der am 8. November vor 100 Jahren geboren wurde und als einziger Leichtathlet die Weltrekorde über 400, 800 und 1.000 Meter innehatte.
Am ersten Tag des Jahres 1939 lag Dresden unter einer kniehohen Schneedecke. Dennoch trafen sich Rudolf Harbig, der im Sommer zuvor in Paris eindrucksvoll Doppel-Europameister über 800 Meter und mit der 4x400-Meter-Staffel geworden war, früh um neun Uhr mit seinen Trainingskameraden vom Dresdner Sport-Club wie verabredet zum Waldlauf.Hans Beger, einer der jüngsten Teilnehmer bei diesem Lauf ins neue Jahr, der später rund drei Jahrzehnte lang Mitarbeiter von der Zeitschrift „Leichtathletik“ war, erinnerte sich 1950 in einer der ersten Ausgaben unserer Fachzeitung: „Bei 15 Grad Kälte bekleidet mit zwei Trainingshosen, Pullover, Windjacken, Schal, Ohrenschützern, wollenen Socken und Rennschuhen bewegten wir uns aus Freude am Lauf und aus Vorfreude auf den Sommer, auf den Wettkampf und auf die sportliche Leistung. Unterbrochen von Gymnastik dauerte der Frühsport der besonderen Art zwei Stunden.“
Zwei Weltrekorde in vier Wochen
„Vor allem Rudi freute sich auf den Sommer. Auf dem Heimweg kurz vor Mittag sagte er mit kleinen Eiskristallen im Gesicht: ,Wenn dieses Jahr alles klappt, dann ist eine Zeit fällig...!‘“ Er versprach nicht zu viel. Denn es war mehr als eine weltweit bewunderte Zeit „fällig“.
Als einziger Läufer in der 101-jährigen Geschichte des Weltverbandes IAAF verbesserte der damals 25-Jährige die Weltrekorde über 400 und 800 Meter innerhalb von nur vier Wochen. Es waren die großen Höhepunkte eines großartigen Sommers mit 23 Rennen in 56 Tagen (!) im Juli und August 1939. Kurze Zeit später beendete die Schreckenszeit des bald beginnenden Zweiten Weltkrieges die Super-Saison von Rudolf Harbig jäh.
Das Duell der Duelle
Nachdem Harbig am 2. Juni 1939 beim Länderkampf Deutschland-Frankreich in München seinen dritten deutschen 800-Meter-Rekord (1:50,5 min) gelaufen war und eine Woche später bei seinem vierten deutschen Meistertitel sogar mit weltrekordnahen 1:49,4 Minuten aufgetrumpft hatte, kam der Länderkampf Italien-Deutschland am 15. und 16. Juli wie gerufen. Schließlich war der italienische Olympiazweite Mario Lanzi am 10. Juni in Pisa ähnlich flott (1:49,5 min) gewesen.
Auf Italiens schnellster 500-Meter-Bahn in der alten Mailänder Arena Civica, die Kaiser Napoleon 1807 für Truppenparaden und andere Spektakel hatte bauen lassen, war der für einen Mailänder Klub startende Lanzi für die 15.000 Tifoso der Favorit. Drei Jahre, nachdem er in Berlin den Olympiasieg verpasst hatte, wollte er seine Karriere mit dem Weltrekord krönen.
Harbig siegt mit Jahrhundert-Endspurt
Nach einem Fehlstart des Mannes im azurblauen Trikot fiel Lanzi beim zweiten Start in den Schuss des Starters – der Kampfrichter ließ das Rennen laufen. Lanzi war es nur recht. Er stürmte los wie nie zuvor in einem Rennen. Ein Stoppuhren-Vergleich von Zeitnehmern, Trainern und Journalisten zeigte später, dass er unter der frenetischen Anfeuerung seiner Landsleute nach 300 Metern (37,3 sec!) sage und schreibe 2,1 Sekunden vor Europameister Rudolf Harbig lag.
Doch diese zu mutige Flucht nach vorn sollte sich rächen. Als nach 700 Metern (1:33,2 min) für beide Läufer auf der langen Geraden einer damals noch für Rekorde zugelassenen 500-Meter-Bahn der Endspurt begann, verschlug es den Tifosi die Sprache. Fast mit jedem Schritt wuchs der Vorsprung von Harbig, über den Heinz Otto, einer der wenigen deutschen Augenzeugen, 14 Jahre später immer noch begeistert schrieb: „Mit geballter Kraft und mit der bis zum Zerreißen angespannten letzten Muskelfaser stürmte Harbig dem Zielband entgegen. Immer noch im Vollbesitz seiner Kräfte, aus denen er auch noch das Letzte herausgeholt hatte.“
„Ihre Uhr ist defekt“
Mit 1:46,6 Minuten stellte Harbig einen Fabel-Weltrekord Zeit auf. Den ein knappes Jahr alten Rekord des Briten Sydney Wooderson verbesserte er gleich um unglaubliche 1,8 Sekunden, was vorher und nachher keinem anderen 800-Meter-Läufer gelang. Der Rekord hatte 16 Jahre lang Bestand. Als Woldemar Gerschler – damals Reichstrainer, aber seit 1934 auch Heimtrainer des neuen Weltrekordlers – seinem Musterschüler die Stoppuhr vor die Augen hielt, da sagte der kaum Erschöpfte: „Ihre Uhr ist defekt.“ Doch schon bald kam die Bestätigung.
Der Stadionsprecher verkündete mit einem besonderen Klang in der Stimme: „Silencio: Nuovo Record Mondiale!“ Rudolf Harbigs großer Rivale Lanzi lief mit 1:49,0 Minuten immerhin noch Landesrekord. Wie unglaublich gut Harbigs Zeit war, konnte der Franzose Marcel Hansenne besonders gut belegen. 1948 war er mit 1:48,3 Minuten hinter Harbig auf Platz zwei der damaligen ewigen Weltbestenliste vorgerückt, 20 Jahre später war er schon einige Zeit Chefreporter der weltweit geachteten Sportzeitung L‘Équipe, in der Hansenne schrieb: „Ich werde heute noch rot, wenn ich Jahrzehnte zurückdenke, weil ich damals zunächst geglaubt hatte, die Fabelzeit sei faschistische Propaganda.“
Großer Jubel in Dresden
Am Tag nach dem vom Weltrekord gekrönten Mailänder 800-Meter-Lauf brachte der Länderkampf, den die deutsche Mannschaft mit 110,5:67,5 Punkten gewann, weitere Rekorde: Über 400 Meter stellten Harbig und der unterwegs wiederum lange Zeit führende Lanzi beide mit 46,7 Sekunden den 400-Meter-Europarekord des britischen Olympiazweiten Godfrey Brown ein. Dazu rannte die siegreiche Staffel mit dem Dresdner als Schlussmann in 3:10,4 Minuten deutschen Rekord. Ein vielbestauntes Rekord-Terzett, wie es in der deutschen Länderkampf-Geschichte nur einmal zu notieren gab, war komplett.
Nicht nur viele Mitglieder des Harbig-Vereins, sondern viele andere Dresdner versammelten sich am Tag darauf zu einem von Begeisterung geschürten Empfang am Bahnhof. Sie suchten nach Ankunft des Zuges zunächst vergeblich nach dem Weltrekordmann. Erst als der Zug weiterfuhr, entdeckten sie ihren nun weltberühmten Läufer. Er war am Ende des Bahnsteigs ausgestiegen. Erschrocken über so viel Aufmerksamkeit und bescheiden wie er selbst auf dem Höhepunkt seiner Karriere war, wunderte er sich über die große Aufmerksamkeit. Seine Bewunderer dachten anders.
Lesen Sie im zweiten Teil, wie die nächste Begegnung Rudolf Harbigs mit Mario Lanzi verlief und wie seine Karriere tragisch endete.