Rudolf Harbig war seiner Zeit weit voraus
Rudolf Harbig, der Dresdner, dem ein einmaliger Rekord-Hattrick gelang, starb vor sechzig Jahren den Soldatentod. "1:46,6 Minuten, dieser 800-Meter-Weltrekord von Rudolf Harbig war so großartig, dass ich einen Augenblick an nazistisch-faschistische Propaganda dachte", meinte seinerzeit Marcel Hansenne, französischer 1000-Meter-Weltrekordmann.
Rudolf Harbig, ein "Jahrhundert-Läufer"!
Der zweite Weltkrieg kostete viele Spitzensportler das Leben. Von den 29 Männern jener deutschen Leichtathletik-Mannschaft, die bei den Europameisterschaften 1938 im Stade Colombes vor den Toren von Paris, mit sieben Goldmedaillen alle anderen Teams in den Schatten stellten, kamen acht nicht nach Hause. Unter ihnen befand sich auch der "Jahrhundert-Läufer" Rudolf Harbig. Ein "Gasmann" aus Dresden, der als einziger Athlet seit der Weltverband IAAF 1912 in Stockholm gegründet wurde, die drei Weltrekorde über 400 Meter (46,0 Sekunden), 800 Meter (1:46,6 Minuten) und 1000 Meter (2:21,5 Minuten) hielt. Niemand weiß genau, wo das Leben dieses einzigartigen Sportlers am 5. März 1944 in der Nähe von Kirowgrad (Ukraine) endete.
Tag der Tage
Ohne die Grauen des Krieges hätte er seinen 90. Geburtstag, den er im vergangenen November gefeiert hätte, vielleicht sogar erleben können. Schließlich zählen die drei anderen drei Läufer, die an der Seite des überlegenen 800-Meter-Europameisters vor 65 Jahren Gold mit der 4x400-Meter-Staffel gewannen, zu jenen acht Männern aus dem erfolgreichen Paris-Team, die auch heute noch leben: Der 91-jährige Hermann Blazejezak in Mönchengladbach, der 90-jährige Dr. Manfred Bues in Kaiserslautern und der 89-jährige Erich Linnhoff in Berlin.
Der "Tag der Tage" für Rudolf Harbig und für die deutschen Mittelstreckler bis heute war der 15. Juli 1939. Eine Woche, nachdem der damals 25-Jährige in Berlin als erster Deutscher 800 Meter unter 1:50 Minuten (1:49,4) verbessert hatte, unterbot der zweimalige Europameister den elf Monate alten 800-Meter-Weltrekord des Briten Sydney Wooderson (1:48,4 Minuten) beim Mailänder Länderkampf Italien gegen Deutschland gleich um 1,8 Sekunden.
Niemals vorher oder nachher gab es einen derart deutlichen Sturz des alten 800-Meter-Weltrekordes. Auf der 500-Meter-Bahn in der alten Arena, die Frankreichs Kaiser Napoleon 1807 in der lombardischen Metropole bauen ließ, war Italiens Olympiazweiter Mario Lanzi mit 52,5 Sekunden für die ersten 400 Meter der ideale Wegbereiter zu einer epochemachenden Zeit. Noch heute erinnert eine Gedenktafel in der "Arena" an jenen legendären Lauf.
Buchstaben statt Ziffern
Weil 1:46,6 Minuten für die Leichtathletik der dreißiger Jahre eine unglaubliche 800-Meter-Leistung waren, meldeten mehrere Nachrichten-Agenturen den Rekord nicht in Ziffern, sondern in Buchstaben: eins-sechs-und-vierzig-sechs.
Der Franzose Marcel Hansenne, der 1948 in der damaligen "ewigen Weltbestenliste" über 800 Meter hinter Rudolf Harbig mit 1:48,3 Minuten auf Platz zwei vorstieß, gestand Jahre später als Chefreporter der großen Sportzeitung "L'Équipe": "Ich werde heute noch rot, weil ich beim Eintreffen der unbegreiflichen Nachricht aus Mailand zunächst einen Augenblick an nazistisch-faschistische Propaganda dachte." Dabei war sie nicht mehr als die Wahrheit.
Als sein Musterschüler (drei Wochen vor Beginn) des Zweiten Weltkrieges in Frankfurt – wiederum gegen Mario Lanzi (47,2) mit 46,0 Sekunden auch den 400-Meter-Weltrekord an sich riss, da benutzte sein Trainer eine neue Stoppuhr. Woldemar Gerschler hat jene Uhr, die er in Mailand bei 1:46,6 Minuten angehalten hatte, nie mehr benutzt, sondern sie wie ein Kleinod aufbewahrt. Man kann seinen Stolz verstehen.
Sie wurden mit Rudolf Harbig Europameister:
Hermann Blazejezak (geboren am 8. Juni 1912 in Hildesheim) lebt seit über fünf Jahrzehnten in Mönchengladbach. Dort half er seinem Schwager Hermann Heinemann beim Aufbau einer weithin bekannten Konditorei und Confiserie. Seine 400-Meter-Bestzeit (47,9 Sekunden) lief der heute 91-Jährige im Vorlauf der Olympischen Spiele 1936 in Berlin beim Sieg über den Staffel-Olympiasieger Godfrey Rampling, der später Adjudant von Königin Elizabeth wurde und Vater der weltberühmten Filmschauspielerin Charlotte Rampling ist. Beim Vorstoß ins Halbfinale gewann er seinen Zwischenlauf unter anderem vor dem späteren britischen Olympiazweiten Godfrey Brown. Dennoch wurde er zu seiner Enttäuschung nicht für die Staffel berücksichtigt, die mit Rudolf Harbig als Schlussmann die Bronzemedaille erkämpfte. Über 800 Meter war der spätere Weltrekordmann, der kurz vorher seinen ersten von sechs Meistertiteln über diese Distanz gewonnen hatte, unter anderem nach einer Verletzung von einem Zusammenprall mit Hermann Blazejezak bei einem Handballspiel ausgeschieden. "Rudi hat mir deswegen nie einen Vorwurf gemacht", erinnert sich der Startmann der Goldstaffel von 1938.
Dr. Manfred Bues (geboren am 5. August 1913 in Greifswald) war nach dem Wechsel von Greifswald in den Westen viele Jahre am Heinrich-Heine-Gymnasium in Kaiserslautern tätig. Zusammen mit dem späteren DLV-Präsidenten Professor Dr. August Kirsch und Karl Koch schrieb der Sportwissenschaftler vor vier Jahrzehnten ein Buch: "Leichtathletischer Mehrkampf bei den Bundesjugendspielen." Als ihm Vizepräsident Theo Rous zur Vollendung des 90. Geburtstages gratulierte, blickte der aus Vorpommern stammende ehemalige 400-Meter-Läufer in einem Antwortschreiben zurück: "Ich war gerne Leichtathlet, doch damals als reiner Amateur. Ich konnte mit 24 Jahren meine Doktorpromotion erreichen. Leider haben fünf Jahre sowjetische Gefangenschaft und Rückkehr mit Hungerödem mir eine weitere spitzensportliche Laufbahn versagt, wenn ich auch 1954 mit 41 Jahren noch 49,8 Sekunden erreichen konnte. Ich bin darauf ein wenig stolz." Kann er auch sein. Schließlich kam er damit seiner Bestzeit, die 16 Jahre vorher im Trikot des SC Charlottenburg gelaufen war, bemerkenswert nahe.
Erich Linnhoff (geboren am 23. Mai 1914 in Küstrin/Oder) besaß jahrelang ein Geschäft mit internationalem Versand für Zeichenbedarf und Büroartikel in der Berliner Knesebeckstraße neben dem Renaissance-Theater. Zweimal wurde der Läufer des SC Charlottenburg, der 1933 nach Berlin gekommen war, um Flugzeugführer bei der Luftwaffe zu werden, deutscher Meister über 400 Meter, 1937 vor dem Düsseldorfer Ferdi Kisters (später Sprint- und 400-Meter-Bundestrainer), 1938 vor Manfred Bues. Bevor er in Paris die Bronzemedaille im 400-Meter-Lauf und Gold mit der Staffel gewann, hatte er in Cottbus und Berlin jeweils mit 47,3 Sekunden deutschen Rekord gelaufen. In Rennen ohne abgesteckte Bahnen, wie sie 1938 und 1939 nach amerikanischem Vorbild vom Fachamt Leichtathletik zur Förderung angeordnet worden waren. Erich Linnhoff erinnert sich daran, dass zur Verbesserung seiner Leistung auch gemeinsames Training mit Rudolf Harbig beitrug: "Trainer Woldemar Gerschler hat uns in Dresden ganz schön rangenommen." Es hat sich gelohnt. Vor allem für Rudolf Harbig!
Rudolf Harbig wurde als 16. Athlet vergangener Tage in die Hall Of Fame von leichtathletik.de aufgenommen! Vorher würdigten wir dadurch bereits die Leistungen von Thomas Schönlebe, Bodo Tümmler, Lina Radke, Lutz Drombowski, Willi Wülbeck, Rosemarie Ackermann, Sabine Braun, Heide Ecker-Rosendahl, Lisa Gelius, Armin Hary, Ronald Weigel, Bert Sumser, Oliver-Sven Buder, Ulrike Nasse-Meyfarth und Ilke Wyludda.
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