Rüdiger Harksen - „Raus aus der Komfortzone“
Als Cheftrainer Track und Disziplintrainer für den Frauensprint steht Rüdiger Harksen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) gleich doppelt in der Verantwortung. Umso mehr durfte er sich über das Staffelbronze seiner Sprinterinnen bei der WM in Berlin freuen. Dass sich der Mannheimer auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen will und bei ihm bereits Aufbruchstimmung zur EM in Barcelona (Spanien) herrscht, verdeutlicht er im Interview.

Rüdiger Harksen:
Wir wussten, wir können vorne reinlaufen. Die USA waren raus und wir hatten die drittbeste Zeit im Vorlauf. Die Mädels haben sich an die Ansagen gehalten, was Ablaufgenauigkeit, Pünktlichkeit des Wechsels und diese Dinge anging. Sie haben gut und sicher gewechselt. Wir wussten, dass wir dort nichts riskieren durften. Ich habe dann das Rennen sehr genossen. Als Verena Sailer den Stab hatte, war klar, dass nicht mehr viel passieren kann.
Die Entscheidung, dass Marion Wagner als Startläuferin in den Saisonhöhepunkt geht, kam für viele überraschend. Wie sehr mussten Sie die Mainzerin überzeugen?
Rüdiger Harksen:
Ich hatte mit ihr viele Einzelgespräche geführt. Marion Wagner ist seit Jahren immer am Schluss gelaufen. Mir war aber spätestens seit den Deutschen Meisterschaften in Ulm klar, dass Marion auch am Start antreten kann. Wenn man ihr das aber nicht sagt und sie in ihrer Schablone lässt, macht man keine Spielräume frei für andere Varianten in der Staffel. Am Mittelblock mit Anne Möllinger und Cathleen Tschirch wollte ich nicht rütteln. Dagegen kann Verena Sailer mit ihrer Stärke auch ein Rennen gewinnen bzw. einen Vorsprung absichern. Das heißt, von der taktischen Formation dieser Staffel her war das für mich die beste Lösung. Wir hatten auch die Variante mit Verena an erster Position ausprobiert. Allerdings hatte Verena in dieser Saison in der Kurve mit Achillessehnenproblemen zu kämpfen, was mit ausschlaggebend für die Entscheidung war.
Trotz allem klappte es Ende Juli in London mit Marion Wagner am Start noch nicht. Brachte das Zweifel?
Rüdiger Harksen:
Das war eine richtige Bauchlandung und das im wahrsten Sinne des Wortes. Da ist Marion nämlich gestürzt. Ich habe danach noch einmal lange mit ihr gesprochen. Wir haben es dann in Wattenscheid noch einmal versucht und es ist gut gegangen. Danach war für mich klar, dass wir die Staffel so lassen. Marion hat in dieser Situation auch eine hohe Wettkampfmoral bewiesen. Die Mädchen standen alle dahinter. Sie sind ohne Zweifel angetreten.
Wie wichtig sind solch ausführliche Gespräche wie mit Marion Wagner für den Erfolg?
Rüdiger Harksen:
Wir haben eine hohe Kommunikationsdichte und es ist auch wichtig, dass man als Trainer nicht nur sagt ‚Macht mal’, sondern auch verständlich macht, warum und wieso, um zu erläutern, was das Vorhaben ist.
Lässt sich der Aufwand, der hinter dem Staffelbronze steckt, in einer Größe beziffern?
Rüdiger Harksen:
Wir waren mit den Sprinterinnen und Sprintern seit dem Frühjahr an rund sechzig Tagen in Trainingslagern und Wettkämpfen zusammen. Nach so einer Medaille muss man natürlich sagen: Es hat sich gelohnt. Wir werden die selbe Strategie auch im nächsten Jahr fahren.
Worauf wird es außerdem ankommen?
Rüdiger Harksen:
Es war meine Philosophie im letzten Herbst, als ich angetreten bin, dass wir internationale Wettkämpfe suchen müssen. Wir dürfen uns nicht nur in der Heimat verstecken. Wir sind mit den Staffeln im April zu den Penn Relays in Philadelphia geflogen und haben dort vor 52.000 Zuschauern etwas auf die Mütze bekommen. Ich bin mit den Frauen nach London geflogen, auch dort haben wir auf die Mütze gekriegt. Aber trotzdem zahlt sich so etwas immer aus. Diese Medaille ist eine Belohnung dafür. Man kann internationale Wettkampfhärte und Robustheit nur dann bekommen, wenn man sich stellt. Dabei darf man auch einmal verlieren.
Ist das genau der Punkt, bei dem im deutschen Laufbereich noch Nachholbedarf besteht?
Rüdiger Harksen:
Die Problematik ist, dass man nicht immer in diese internationalen Rennen hineinkommt. Wir müssen daran arbeiten, die internationale Präsenz zu verstärken. Aus meiner Sicht gibt es nur diesen Weg. Wir müssen uns stellen. Dabei rede ich nicht gegen die deutschen Meetings. Ich bin froh, dass wir sie haben. Aber das alleine reicht nicht aus. Wir müssen aus der Komfortzone raus, uns im Welt- und Europa-Maßstab bewähren und uns diesen Schliff holen.
Wie sehen Sie die Zukunft des deutschen Sprints für die nächsten Jahre?
Rüdiger Harksen:
Ich habe keinen Bammel vor der Zukunft. Wir haben bei der U20-EM gezeigt, dass wir im Männer- und Frauenbereich nachrückende Talente haben. Bei der WM war Verena Sailer die schnellste Europäerin. Auch ein Martin Keller hat in diesem Sommer gezeigt, was er kann. Wir haben bei der WM einen Robert Hering gesehen, der der jüngste Teilnehmer der deutschen Mannschaft war und trotzdem nur um sieben Hundertstel am WM-Finale vorbeigeschrammt ist. Wir kämpfen und geben nicht auf, damit wir 2012 bei Olympia im Einzel auch deutsche Finalteilnehmer sehen werden.
In Berlin gab es noch einen Wermutstropfen. Wie beurteilen Sie das Ausscheiden der Männer-Sprintstaffel in Berlin?
Rüdiger Harksen:
Zunächst einmal wäre es bei der WM durchaus auch im Männerbereich möglich gewesen, vorne rein, also unter die ersten Fünf zu kommen. Nach den biomechanischen Analysen, der Laufauswertung, waren sie bei 200 Metern, also vor dem missglückten Wechsel von Marius Broening auf Alexander Kosenkow, eine Zehntel schneller als in Wattenscheid, wo sie 38,40 Sekunden gelaufen waren.
Welche Auswirkungen hatte der Fehler von Alexander Kosenkow?
Rüdiger Harksen:
Er ist seit Jahren unser bester Staffelläufer. Jetzt macht er einmal einen Fehler. Aber das darf er, wir halten an dem Jungen fest. Nächstes Jahr haben wir eine EM. Auch wenn er dann 32 Jahre alt ist, werden wir nach Leistung und nicht nach Alter nominieren.
Muss sich der deutsche Sprint über die Staffeln profilieren?
Rüdiger Harksen:
Im Weltmaßstab zunächst ja. Das ist die Ausgangsposition. Natürlich liegt die Erfolgsperspektive Richtung Medaillen immer in der Staffel.
Im Laufbereich gibt es solche Varianten nicht. Wie bewerten Sie dort die deutschen Leistungen bei der WM?
Rüdiger Harksen:
Antje Möldner hat über 3.000 Meter Hindernis eine fantastische Leistung gezeigt. Ihr ist es gelungen, in Vor- und Endlauf deutschen Rekord zu laufen. Leider war im Marathon mit Irina Mikitenko aus familiären Gründen unsere Top-Läuferin nicht am Start. Ich verhehle nicht, dass es im Mittelstreckenbereich nicht optimal gelaufen ist. Wir werden aber auch an Athleten wie Robin Schembera festhalten. Nicht vergessen sollte man übrigens in meinem Zuständigskeitsbereich auch die 4x400-Meter-Staffel der Frauen und Geher André Höhne mit ihren jeweils fünften Plätzen.
Barcelona ruft als die nächste große Aufgabe. Wie sehen Sie die Aussichten für die EM im nächsten Jahr nun nach Berlin?
Rüdiger Harksen:
Wir nehmen den momentanen Rückenwind mit ins Wintertraining. Ich freue mich gerade für meinen Bereich Sprint und Lauf, dass wir im nächsten Jahr eine EM als Plattform haben. Sprinten und Laufen, das macht die ganze Welt, das sind die globalisiertesten Disziplinen. deshalb gibt es im Vergleich zu den technischen ein Ungleichgewicht. Darum müssen wir versuchen, uns im nächsten Jahr im Europa-Maßstab zu profilieren, speziell mit den jungen Leuten. Wir wollen diese über die EM heranführen und dann bin ich auch für 2012 sehr hoffnungsvoll.
Nach der erfolgreichen WM werden die Erwartungen für die EM gestiegen sein…
Rüdiger Harksen:
Damit habe ich überhaupt keine Bauchschmerzen. Wir können noch erfolgreicher sein. Wir haben in diesem Jahr bei der Team-EM in Leiria gezeigt, dass wir die Nummer eins in Europa sind. Meinem Kollegen Herbert Czingon und mir ist es zusammen mit Sportdirektor Jürgen Mallow und dem Vize-Präsidenten Prof. Dr. Eike Emrich gelungen, ein Team zu formieren. Die Nationalmannschaft ist eine Identität für die Individualisten. Das wird nicht nur kommuniziert, sondern auch gestaltet. Die Athleten ziehen gerne das Nationaltrikot an. Das spüren wir. Es macht Spaß.