Rüdiger Nickel - "Gehe nicht mit Groll"
Rüdiger Nickel, der bisherige DLV-Vize-Präsident Leistungssport, hat am gestrigen Mittwoch als Konsequenz aus dem enttäuschenden Abschneiden der deutschen Mannschaft bei den Olympischen Spielen in Athen den Rücktritt von all seinen Ämtern erklärt. Christian Fuchs hat mit ihm für leichtathletik.de ausführlich über die Hintergründe dieser Entscheidung und des momentanen Leistungstiefs in der deutschen Leichtathletik gesprochen.
Rüdiger Nickel: "Nicht mehr kompensierbar" (Foto: Kiefner)
Herr Nickel, mit Ihrem Rücktritt ist nach 25 Jahren auch eine Ära zu Ende gegangen...Rüdiger Nickel:
25 Jahre Leichtathletik im und für den DLV waren mein Leben, für das ich mich bewusst entschieden habe, entschieden auch dafür, dass die vielfältigen Erfolgserlebnisse und in erster Line schönen Zeiten mit Entbehrungen verbunden sind. Sie haben zumeist diese Entbehrungen kompensiert. Die jüngsten Entwicklungen haben mir allerdings gezeigt, dass ich verletzlicher geworden bin. Sitzen Verletzungen so tief wie bei mir in der jüngsten Zeit, sind sie durch die Hochgefühle, die ich mit der Leichtathletik im allgemeinen und der Nationalmannschaft im Besonderen erleben durfte, auf Dauer nicht mehr kompensierbar.
Warum haben Sie nach Ihrer Rückkehr aus Athen Ihren Rücktritt bekannt gegeben und nicht schon in Athen im Kreis der Nationalmannschaft?
Rüdiger Nickel:
Ich hatte bereits in Athen vor, im Rahmen der "Stillen Stunde" meinen Rücktritt zu verkünden. Nach Gesprächen mit DLV-Präsident Dr. Clemens Prokop und besonders mit Generalsekretär Frank Hensel habe ich davon Abstand genommen. Dies insbesondere deswegen, um in der "Stillen Stunde" nicht meine Person, sondern die Athleten und Trainer in den Vordergrund zu stellen, die stets im Mittelpunkt meines Handelns gestanden haben. Ich wollte die "Stille Stunde" nicht mit einer Personaldiskussion belasten, sondern die Chance nutzen, die Mannschaft einerseits auf das katastrophale Ergebnis hinzuweisen, andererseits aber auch Perspektiven aufzuzeigen.
Was bleibt für Sie nach 25 Jahren Leichtathletik an Erkenntnissen und Erinnerungen?
Rüdiger Nickel:
Ich gehe aus der Position des DLV-Vizepräsidenten Leistungssport nicht mit Groll, sondern in der Erkenntnis, dass mein Anspruch an die Ausführung einer ehrenamtlichen Position im DLV als Verantwortlicher für den Leistungssport nicht mehr erfüllt werden kann, ohne meine berufliche, persönliche, soziale und gesundheitliche Existenz nachhaltig zu gefährden. Ich habe unendlich viele wertvolle Menschen kennen gelernt, die mir teilweise zu Freunden geworden sind. Ich habe Athleten führen dürfen, für die es sich gelohnt hat, Opfer zu bringen. Ich habe bei der Jugend engagierte Sportler kennen und die Leistungsklasse führen gelernt. Ich habe eine Anti-Doping-Politik umzusetzen mithelfen können, die mutlosen Athleten wieder etwas Mut gegeben hat. Ich habe zusammen mit Frank Hensel erfolgreich versucht, Leistungssport fairer, transparenter und erfolgreicher zu gestalten, was das Überwinden des Tals von 1995 (Göteborg) bis hin zu den Weltmeisterschaften 1999 (Sevilla) hervorragend geklappt hat. Dr. Bernd Schubert war dabei eine weitere treibende Kraft, zunächst zusammen mit Frank Hensel, dann bis zum Abschluss der Olympischen Spiele 2004 in Alleinverantwortung. Für seine Solidarität und unumstößliche Loyalität bedanke ich mich. Ich habe in Peter Schmitt letztlich einen Kommunikator kennen gelernt, der nicht nur Leichtathletik optimal und professionell "verkauft" hat, sondern mir auch zum Freund geworden ist. Für diese Zusammenarbeit möchte ich mich bedanken. Sie war loyal, erfolgreich und angenehm.
Sie haben es selbst angesprochen. Wie problematisch ist es, einen ehrenamtlichen Posten wie den des Vize-Präsidenten mit den beruflichen Verpflichtungen zu verbinden?
Rüdiger Nickel:
Allein der Aufenthalt bei den Olympischen Spielen führt in meiner Kanzlei zu einem Einnahmeverlust von einem Drittel eines Monatseinkommens. Dies kann auch bei größt möglichen Anstrengungen auf Dauer nicht mehr aufgefangen werden. Frank Hensel hat in einem Interview mit Recht größere Professionalität im Leistungssport gefordert. Ich war seinerzeit, vor nunmehr elf Jahren, als Sportwart mit der Forderung angetreten, dass ich der "letzte ehrenamtliche Sportwart" sein möchte. Mit dieser Forderung scheine ich gescheitert zu sein, sie scheint auch nicht weiter verfolgt zu werden. Eine Änderung hin zur Professionalität scheint sich insoweit nicht abzuzeichnen. Der Präsident hat seine Position nahezu hauptamtlich auszuüben, ohne hierfür eine Entschädigung zu erhalten. Für mich ist die zeitliche Belastung - bei allen Versuchen, sie zu konzentrieren und zu effektivieren - in dieser Position nicht mehr verantwortbar.
Wenden wir uns der momentanen sportlichen Situation nach Olympia und ihren Problemen zu. Es kam zuletzt auch deutlich zum Ausdruck, dass das System mit Heimtrainern und Managern der Athleten nur schwer zu steuern ist. Fehlt die Eigenverantwortung der Athleten, der Antrieb? Sind sie schon mit einer Olympiateilnahme zu satt, wie mancherorts vorgeworfen wird, oder werden sie von ihrem Umfeld zu satt gemacht?
Rüdiger Nickel:
Ich weiß nicht, was unsere Athleten verdienen. Diese Zahlen sind mir nicht bekannt. Aber zumindest ist sicher, dass zweitklassige Athleten mehr verdienen als normale Angestellte. Ob es deshalb aber eine Frage des Sattseins ist, kann ich nicht beurteilen. Ich gestehe aber den Athleten, die sich für den Leistungssport entschieden haben, ein, dass sie sich in der Gegenwart und für die Zukunft absichern. Sonst können wir keine junge Athleten für den Leistungssport begeistern. Ich glaube vielmehr, dass die Prioritätensetzung falsch ist, dass der leistungssportliche Marktwert, der durch den Saisonhöhepunkt bestimmt wird, nicht im Vordergrund steht. Diesem Ziel ordnen manche nicht alles unter. Ich nehme auch die Manager in die Verantwortung. Da hat man nicht immer das leistungssportliche Ziel im Auge, sondern das ökonomische. Eine Prioritätenverschiebung und eine Verzettelung ist die Folge. Das sieht man auch daran, dass rund 35 unserer Athleten in Athen weit von ihrer Saisonbestleistung entfernt waren. Hier sind aber auch die Heimtrainer und Bundestrainer gefragt.
Die Nominierungsrichtlinien haben in diesem Jahr auch einigen Athleten aufgrund von frühen oder Vorjahresleistungen den Weg nach Athen geebnet. War die Leine, die der DLV den Athleten gegeben hat, zu lang?
Rüdiger Nickel:
Das Problem ist, man muss bei diesen Richtlinien einen schmalen Grat gehen. Zum einen geht es um die Feststellung, ob jemand olympiatauglich ist, das heißt, es dreht sich um einen späten Nachweis der Leistungsfähigkeit. Andererseits muss man den Athleten eine gewisse Sicherheit geben, damit sie sich gezielt auf den Höhepunkt vorbereiten können. Wenn das gelingt, ist man ein großes Stück weiter. Diesen schmalen Grat konnten wir in diesem Jahr nicht erfolgreich beschreiten.
Ist es Ihrer Meinung nach einen Versuch wert, künftig die Nominierungsrichtlinien deutlich zu verschärfen und nur noch mit einer kleinen Mannschaft von dreißig bis vierzig Top-Athleten zu den Großereignissen zu reisen?
Rüdiger Nickel:
Zunächst einmal will ich sagen, dass ein Neubeginn, dem ich mit meinem Rücktritt den Weg ebnen möchte, neue Ansätze bedeutet und man sich nicht mehr auf die Ideen der "Altvorderen" verlässt. Ob eine Verschärfung der Normen das Richtige ist, weiß ich auch nicht. In manchen Disziplinen muss man die Normen sicher überprüfen. Wie zum Beispiel im Hammerwurf der Frauen, dort braucht man inzwischen für den Endkampf 72 Meter. Anspruch muss es weiterhin sein, endkampftaugliche Athleten zu schicken. Fortschritte werden dort gemacht, wo Saisonbestleistungen erzielt werden. Die Leistungen sollten nicht bei "Schokoladenwettkämpfen" und "Flugwiesen" gebracht werden. Das ist kein Maßstab für einen Saisonhöhepunkt, wo andere Gesetze herrschen. Eins muss aber klar sein, eine kleinere Mannschaft bringt keine größeren Erfolge. Das würde nur die Kosmetik ändern bei den Erstrundenausfällen im Vergleich zu der Gesamtzahl der Starter.
Wie die Nachwuchs-Titelkämpfe fast jedes Jahr beweisen, mangelt es der deutschen Leichtathletik nicht an Talenten. Sie kommen aber zum großen Teil nicht oben an. Woran liegt das, wie kann man das ändern?
Rüdiger Nickel:
An manchen Faktoren kann man nichts ändern. Nicht jeder Medaillengewinner der U20 oder U23 ist ein potenzieller Medaillengewinner im Erwachsenenbereich, weil einfach gewisse Voraussetzungen fehlen. Ein Zehnkämpfer muss sich etwa von 7.700 zu 8.500 Punkten weiterentwickeln. Nicht jeder muss das große Talent sein, das auch oben ankommt, und auch das unbedingte Wollen haben, das Risiko des Hochleistungssports einzugehen. Von hundert Athleten, die den Weg einschlagen, schaffen es fünf! Die übrigen 95 Prozent setzen möglicherweise ihre Berufsausbildung und ihre Zukunft auf's Spiel für ein Ziel, das sie letztlich nicht erreichen. Ein Ansatzpunkt ist deshalb, wie kann man das Risiko bei den wirklichen Talenten minimieren. Es geht dabei um das Auffangen bei Verletzungen und nach dem Ende der Karriere. Ein aktuelles Beispiel ist Hürdenläuferin Stephanie Kampf, die sich in Athen einen Tag vor dem Wettkampf verletzt hat. Sie wird sich fragen, wofür sie all die Risiken eingegangen ist. Der Athlet bleibt als Mensch auf der Strecke. Ich bemängle, dass er oft zu sehr Objekt ist.
Was möchten Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg geben? Was sollte er an Voraussetzungen mitbringen?
Rüdiger Nickel:
Er muss seinen eigenen Weg gehen. Ich bin zurückgetreten, weil ich denke, dass man aus Zwängen und Betriebsblindheit vielleicht nicht mehr die Ideen einbringen kann, die nötig sind. Die Chance will ich meinem Nachfolger nicht nehmen. Ich will keine Ratschläge als Besserwisser geben. Für mich war es immer ein Riesenvorteil, dass ich glaubte, einen guten Rückhalt in der Mannschaft zu haben und beim Großteil der Athleten vertrauen hatte. Das ist ein wesentlicher Punkt. Ich glaube nämlich nicht, dass ein Vize-Präsident Leistungssport ohne diesen Rückhalt existieren könnte. Ein Misstrauensvotum wäre tödlich. Man unterliegt als Funktionär aber der Gefahr, sich verbiegen zu lassen. Dieser sollte man entgehen.
Wenn Sie heute an die nächsten Olympischen Spiele 2008 in Peking denken. Gibt es sie, die Hoffnungsträger der deutschen Leichtathletik, auf die Ihr Nachfolger bauen kann?
Rüdiger Nickel:
Ich glaube nicht, dass wir noch einmal die ganz großen Erfolge von Mitte bis Ende der Neunziger Jahre erzielen können. Dafür hat sich die Leichtathletik zu sehr geändert. Sie ist globaler und komplizierter geworden. In der deutschen Mannschaft schlummert aber Potenzial. Betty Heidler, Sebastian Ernst, Till Helmke oder Claudia Tonn sind nur ein paar Beispiele dafür. Solche Namen fallen durchaus auf. Wenn deren Talent gepflegt wird, wenn sie nicht nur nebenher laufen, sehe ich die Chance, aus dem momentanen Tal wieder herauszukommen. Ich würde gerne die Olympischen Spiele 2008 mit einer erfolgreichen deutschen Leichtathletik-Mannschaft verfolgen und am Fernseher jubeln. Die Leichtathletik wird nämlich auch als Außenstehender mein Leben bleiben.