Schneider fast unbemerkt zur WM-Medaille
Es ist ein Laufen im Schatten. Vor drei Jahren entschied sich 400-Meter-Läufer Tobias Schneider gegen seine eigene Karriere und für ein Leben als Guide im Behindertensport. Jetzt wurde er Vize-Weltmeister über die Stadionrunde bei der Behinderten-WM in Lyon (Frankreich) zusammen mit dem sehbehinderten Thomas Ulbricht. Nur bekommen das die Wenigsten mit. Der Name Tobias Schneider taucht nicht in den Ergebnislisten auf.
„Von einer Finalteilnahme bei Deutschen Meisterschaften über 400 Meter kann man sich nichts kaufen.“ Es war 2010 als in dem gebürtigen Dessauer Tobias Schneider diese Erkenntnis reifte. 47,25 Sekunden brachte er damals auf die Stadionrunde. Gut, aber nicht gut genug. „Ich musste feststellen, meine Karriere geht nicht weiter.“ Zumindest nicht als Einzelläufer.Doch dann öffnet sich dem damals 25-Jährigen die Chance, als Guide im Behindertensport beim Verein PSC Berlin zu laufen. Aus dem Individualist Schneider wird der Begleiter. Der Trainer. Der Freund. Denn: „Ohne grenzenloses Vertrauen kannst du in diesem Sport gemeinsam nichts erreichen“, sagt sein heutiger Laufpartner Thomas Ulbricht. Vor dem ehemaligen Fünfkämpfer, der nur aufgrund der Streichung seiner Disziplin aus dem paralympischen Programm (der Fünfkampf galt als die Königsdisziplin, vergleichbar mit dem olympischen Zehnkampf), auf die Stadionrunde wechselte, lief Tobias Schneider zusammen mit Matthias Schröder über 400 Meter. Gemeinsam holten sie Silber bei der WM 2011, starteten im letzten Jahr bei den Paralympics in London (Großbritannien). „Eine tolle Erfahrung. Alleine wäre ich da niemals hingekommen“, sagt Schneider heute.
Nachdem Matthias Schröder nach den Paralympics sein Karriereende bekannt gab, fand Schneider anfang des Jahres in Ulbricht einen neuen Laufpartner. „Ein Glücksfall für unsere Sportart“ – so nennt Ulbricht seinen Laufkollegen. „Wir brauchen so schnelle Jungs, sonst können wir selber auch nicht schnell sein.“ Ulbricht hat eine Bestzeit von 50,61 Sekunden, aufgestellt bei der diesjährigen Behinderten-WM in Lyon. „Da musst du erst mal jemanden finden, der da locker mitlaufen kann“, sagt Ulbricht. Tobias Schneider kann. Zwei Sekunden, so sagt man, muss der Guide vom Vermögen immer schneller sein als der Läufer, den er betreut. Denn Guide zu sein, bedeutet viel mehr als bloß schnell zu laufen.
Das dritte Auge
„Ich bin Thomas‘ Schatten“, sagt Tobias Schneider. „Er ist mein drittes, mein sehendes Auge“, sagt dagegen Thomas Ulbricht lieber. Zwei Aussagen, die in der Kombination die Wirklichkeit abbilden, wird in der Öffentlichkeit doch vornehmlich der Erfolg des sehbehinderten Ulbricht wahrgenommen (der Name des Guides taucht in den offiziellen Ergebnislisten der WM in Lyon nicht auf), doch erst Schneider macht die Leistungen des Duos möglich, das sich als gleichbedeutendes Team versteht.
„Ich bin der Prellbock“, sagt Schneider. In den Kurven hält er engen Körperkontakt zu Ulbricht, läuft mit ihm Schulter an Schulter, gibt dem Sehbehinderten damit den Kurs vor. „Das kannst du nicht, wenn du selber körperlich total am Limit läufst“, sagt Schneider. „Und das ertrage ich auf der anderen Seite nur, weil ich Tobi absolut vertraue“, sagt Ulbricht. Dabei ist Thomas Ulbricht nicht ganz blind. Aufgrund eines Gendefekts wurden seine Augen mit der Zeit immer schlechter, „es wurde dunkel um mich rum“, sagt Ulbricht. Heute sind ihm drei Prozent Sehfähigkeit geblieben. Noch gerade genug, um das Gesicht eines Menschen ab einem Abstand von 50 Zentimetern erkennen zu können. Doch bei weitem zu wenig, um in Höchstgeschwindigkeit alleine über eine 1,22 Meter breite Kunststoffbahn zu rennen. Und Schneider ist dabei nicht nur der lebendige Prellbock. „Er ist mein Navi“, sagt Thomas Ulbricht. „Er sagt mir, wo wir im Rennen liegen, wo meine Gegner sind.“ Denn sehen kann er sie alleine nicht.
Leistungssport außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung
„Es war eine Umstellung, klar“, erinnert sich Tobias Schneider an seine ersten Schritte als Guide im Behindertensport, an die Zeit als der Individualläufer Schneider verschwand und zum Duo mit einem anderen Sportler verschmolz. „Plötzlich hast du Verantwortung für einen anderen Athleten.“ Plötzlich musste er seinen Laufrhythmus einem anderen Läufer anpassen. Und obwohl er weiterhin so hart trainiert wie früher, sechs bis zwölf Einheiten trainiert das Duo Schneider/Ulbricht in der Woche gemeinsam (Schneider: „Da kannst du nicht schonen“), steht ein anderer im Fokus. Wobei das Wort Fokus schon fast euphemistisch daherkommt, denn abseits der Paralympics bekommt die Öffentlichkeit kaum etwas mit von dieser Sportart.
„Wir sind eine absolute Randsportart“, weiß Ulbricht. „Obwohl wir ja genauso hart trainieren, wie etwa die Fußballer.“ Das altbekannte Problem. Neben ein paar Euro, die sie von der Sporthilfe bekommen (hier sind Guide und der behinderte Athlet gleichgestellt) verdient Ulbricht sein Geld als Sachbearbeiter im öffentlichen Dienst des Bundesinnenministeriums. Tobias Schneider beendet im kommenden Jahr sein Studium des Sportmanagements.
Show tut gut
Dass der Behindertensport durch Integration in große Leichtathletik-Wettbewerbe etwa wie kürzlich beim Berliner ISTAF, wo Weltmeister Robert Harting (SCC Berlin) gegen den Paralympics-Weltmeister Sebastian Dietz (LAV Bünde) im Vergleichskampf antrat, in die Öffentlichkeit kommt, sehen Schneider und Ulbricht als guten Schritt. Aber: „Für Showwettkämpfe, wo es um den Vergleich geht, ist das eine super Sache. Aber wenn die Behinderten alle bei Deutschen Meisterschaften starten dürften, das würde unserem Sport nicht gut tun“, glaubt Ulbricht, der eine angeheizte Diskussion etwa um Technikvorteile durch Prothesen fürchtet.
Dabei muss Ulbricht selber auf Hilfsmittel dieser Art nicht zurückgreifen. Sein Hilfsmittel ist Tobias Schneider. Auch im Alltag abseits der Kunststoffbahn. Gemeinsam wohnen sie im Athletenhaus in Berlin. Zimmer an Zimmer. Kochen zu zweit, trainieren gemeinsam, verbringen ihre Freizeit zusammen. Und Tobias Schneider sieht buchstäblich für Thomas Ulbricht mit. „Er beschreibt mir alles. Was es am Buffet gibt, oder auch wie die Frau da drüben aussieht“, sagt Ulbricht. „Wenn ich mit nicht sehbehinderten Freunden unterwegs bin, muss ich mich da immer zurückhalten, dass ich denen nicht auch immer alles und jeden beschreibe. Da merke ich, wie mich die letzten Jahre geprägt haben“, entgegnet Schneider.
Medaillenjagd geht weiter
Und auch die kommenden Jahre sollen prägende sein. An die Paralympics 2016 in Rio (Brasilien) will das Duo noch nicht denken, dann schon eher an die Europameisterschaften im kommenden Jahr in Wales. Da soll die nächste internationale Medaille her. Mit Bestzeit für Thomas Ulbricht. „Unter 50 Sekunden, da muss Tobi sich schon strecken.“
Ob Tobias Schneider sich auch noch einmal alleine auf der Bahn strecken wird? „Ab und an, ja, da mache ich das noch ganz gerne. Aber anders als früher. Völlig ohne Druck.“
Die Internetseite von Thomas Ulbricht