Shelly-Ann Fraser-Pryce - Die "Taschenrakete"
Bei der WM in Moskau (Russland) hat Shelly-Ann Fraser-Pryce (Jamaika) dreimal Gold gewonnen - die Sprint-Queen war damit genauso erfolgreich wie ihr Landsmann Usain Bolt. Dennoch gibt es Unterschiede - die 26-Jährige backt etwas kleinere Brötchen. Nicht gleich für die ganze Welt, sondern mehr für ihre Heimat Jamaika sieht sie sich als Botschafterin der Leichtathletik.
Misslungene Generalprobe - perfektes Rennen, wenn es drauf ankommt. Mit dieser Faustregel kennt sich Shelly-Ann Fraser-Pryce aus. Im letzten Rennen vor Olympia im vergangenen Jahr trudelte sie beim Diamond League-Meeting in London (Großbritannien) nach 11,82 Sekunden als Letzte ins Ziel. Vier Jahre zuvor waren es in Monaco (Monte Carlo) 11,36 Sekunden, ebenfalls als Achte.Auch in diesem Jahr musste die Jamaikanerin im letzten Rennen vor der WM die einzige Saisonniederlage über 100 Meter einstecken, diesmal wieder beim Diamond League-Meeting in London und das nachdem sie im Vorlauf in 10,77 Sekunden eine pfeilschnelle Zeit auf die Bahn gelegt hatte. Im Finale reichten 10,94 Sekunden nur zu Rang vier.
Ist das vielleicht Taktik, ein Bluff vor dem großen Coup? Ob 2008, 2012 oder 2013 dem Patzer bei der Generalprobe folgte immer eine Goldmedaille. In Moskau sogar mit dem größten Vorsprung von 22 Hundertstel Sekunden in der WM-Geschichte über 100 Meter.
Rückschläge für US-Sprinterinnen
Bei den anderen beiden Einsätzen von Moskau kam jeweils starke Konkurrenz aus den USA. In der 4x100-Meter-Staffel machten die US-Girls ihre Gold-Chancen beim zweiten Wechsel zu Nichte, als English Gardner viel zu früh los lief. Nach dem WM-Titel 2009 war so der Weg zum zweiten Staffel-Gold für Shelly-Ann Fraser-Pryce möglich.
Über 200 Meter spielte sich ein Drama ab, von dem die Sprintqueen aus Jamaika im Rennen kaum etwas mitbekam. Dank ihres blitzschnellen Starts war sie dem Feld schon enteilt, als Allyson Felix hinter hier mit einer Oberschenkelverletzung auf der Bahn zusammensackte. So kam es nicht zu einem möglichen spannenden Zweikampf auf der Zielgeraden gegen die Olympiasiegerin aus den USA.
Shelly-Ann Fraser-Pryce gewann ihren ersten großen Titel auf der langen Sprintstrecke, die sie lange Zeit eigentlich gar nicht mochte - aber seit ihrem Olympia-Silber von London mehr und mehr schätzt. "Ich denke, ich werde in Zukunft sogar die bessere 200-Meter-Läuferin sein", erklärte die nur 1,60 Meter große Sprinterin, die deshalb auch "Pocket Rocket", übersetzt "Rakete im Taschenformat", genannt wird.
Keine Gedanken an den Weltrekord
Die Fabelweltrekorde von Florence Griffith-Joyner hält die Jamaikanerin außer Reichweite. "Ich habe meine eigenen Bestzeiten im Kopf. Ich halte es für möglich, dass ich eine 10,5 über 100 Meter laufen kann." Dass die Weltrekorde mit Doping erzielt wurden, ist nicht bewiesen. Zweifel spielen bei solchen Zeiten aber immer eine Rolle.
Auch Shelly-Ann Fraser-Pryce ist in Sachen Doping kein unbeschriebenes Blatt. Sie war 2010 sechs Monate gesperrt, weil in der Dopingprobe vom Diamond League-Meeting in Doha (Katar) das Schmerzmittel Oxycodon nachgewiesen wurde. Immerhin gibt es dafür eine Erklärung, die nachvollziehbar klingt.
Auf dem Flug nach Katar, so sagt die Jamaikanerin, habe sie starke Zahnschmerzen bekommen, ihr Trainer Steven Francis habe ihr das Mittel daraufhin gegeben, aber vergessen, es anzumelden. Eine leistungssteigernde Wirkung hat es nicht, deshalb viel die Sperre auch so kurz aus. Mit den Dopingfällen Asafa Powell, Veronica Campbell-Brown und Sherone Simpson kamen allerdings auch in diesem Jahr Negativ-Schlagzeilen aus der Trainingsgruppe.
Kometenhafter Aufstieg
Der Aufstieg der Shelly-Ann Fraser-Pryce begann mit dem Wechsel zu Steven Francis im Jahr 2006. Nach stagnierenden Leistungen folgte ein Jahr später die Steigerung auf 11,31 Sekunden und der erste internationale Einsatz in der jamaikanischen Sprintstaffel bei der WM in Osaka (Japan) und Rang zwei.
2008 ging es gleich nochmal knapp eine halbe Sekunde schneller - beim Olympia-Sieg in London (10,78 sec). WM-Gold in Berlin (10,73 sec) folgte nach dem durch die Dopingsperre verbauten Jahr 2010 ein von Verletzungsproblemen geprägtes Jahr 2011 mit WM-Rang vier, bis es 2012 wieder wie gewohnt vorne weg ging.
Kein Umweg über die USA
Ihren Weg in die Weltspitze fand die 26-Jährige ohne ein Stipendium in den USA, was lange Zeit der einzige Weg für Talente von der Karibik-Insel schien. Bestes Beispiel war Merlene Ottey, die in den Bundesstaat Nebraska ging und zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee sah, aber nie eine Olympia-Goldmedaille gewinnen konnte.
Für Shelly-Ann Fraser kam ein Leben weit weg von der Heimat nicht infrage. "Ich liebe Jamaika. Ich bin nah bei meiner Familie, wenn etwas los ist, brauche ich nur den Bus zu nehmen und bin da."
Aufgewachsen ist die fünfmalige Weltmeisterin in Waterhouse, einem Ghetto in Jamaikas Hauptstadt Kingston. "Meine Mutter musste die High-School abbrechen, weil sie schwanger wurde. Sie wollte nicht, dass mir das auch passiert." Der Armut ist sie davon gesprintet.
Junge Talente motivieren
Ihre Herkunft hat Shelly-Ann Fraser-Pryce nicht vergessen. Zum Beispiel mit einer Stiftung versucht sie, sozial benachteiligte Jugendliche zu unterstützen. "Wenn ich auf der Bühne stehe, hören sie mir zu. Ich bin ein Beispiel, dass man es schaffen kann."
Erst als dritter Athletin in der Geschichte gelang es ihr, zweimal infolge Olympiasiegerin über 100 Meter werden. 2016 möchte die Weltmeisterin als erste Sprinterin überhaupt das Triple schaffen. Die Erwartungen sind mit den großen Erfolgen der letzten Jahre auch im ganzen Land gestiegen. "Wenn man bedenkt, dass es bis 2008 kein Sprint-Gold für Jamaika gegeben hatte."
Mit der Popularität ihres Landsmanns, Weltrekordhalters und erfolgreichsten WM-Athleten aller Zeiten Usain Bolt kann Shelly-Ann Fraser-Pryce aber noch nicht ganz mithalten. "Wenn ich im Supermarkt erkannt werde, fragen mich die Leute immer nach Usain: Wo ist er? Wann läuft er wieder? Ich erkläre dann, dass ich auch nicht mehr weiß, weil er nicht in meiner Trainingsgruppe ist."