Liesel Westermann-Krieg - Rekord neben dem Examen
Die ehemalige Weltrekordhalterin Liesel Westermann-Krieg liebte Gegenwind beim Diskuswurf, doch sie drehte ihr Fähnchen nicht in den Wind. Heute feiert die Referentin für Schulsport und Gesundheitserziehung im niedersächsischen Kultusministerium ihren 60. Geburtstag.
Liesel Westermann-Krieg feiert ihren 60. Geburtstag (Foto: Schröder)
Heutzutage sind Leichtathletik-Weltrekordler ohne Ausnahme Vollprofis. Nicht nur für sie klingt es wie ein Märchen aus alten Zeiten, dass eine junge Athletin fast ganz auf das Wintertraining verzichtet, um ihr Examen an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen mit "sehr gut" zu bestehen und dennoch einige Monate später mit 61,26 Meter zur Weltrekordlerin im Diskuswurf aufsteigt. Noch dazu mehrere Wochen nach Ende der europäischen Saison. Am 5. November 1967 auf dem Pinheiros-Sportplatz in Sao Paulo zum Abschluss einer Reise durch mehrere südamerikanische Länder und mit dem letzten Wurf einer langen Saison. Liesel Westermann gelang damals nicht nur der erste 60-Meter-Wurf mit dem 1.000 Gramm schweren Diskus, sie stieg auch zur ersten deutschen Wurfweltrekordlerin nach dem Zweiten Weltkrieg auf. 25 Jahre waren seit dem 47,24-Meter-Speerwurf der Wahl-Kölnerin Anneliese Steinheuer am 21. Juni 1942 in Frankfurt vergangen. Drei Tage vor dem ersten ihrer vier Weltrekorde war Liesel Westermann erst 23 Jahre alt geworden. Also gilt es Liesel Westermann-Krieg, die seit diesem Jahr als Referentin für Schulsport und Gesundheitserziehung im niedersächsischen Kultusministerium tätig ist, heute zur Vollendung des 60. Lebensjahres zu gratulieren.
Zum Diskuswurf aus Bequemlichkeit
Der Beruf führte die Mutter von Stefan, Volker, Ulrich und Katja Krieg, die inzwischen 18 bis 25 Jahre alt sind, nicht nur in ihre niedersächsische Heimat zurück. Hannover, das ist auch die Stadt ihres ersten deutschen Meistertitels im Diskuswurf. Ich erinnere mich noch, wie glücklich sie damals war, weil ihre stolzen Eltern aus Sulingen im Kreis Diepholz auf der Tribüne des Niedersachsenstadions diesen Sieg miterlebten. Sie hatten Liesel in diesem 7.000 Einwohner zählenden Ort schon mit drei Jahren zum Kinderturnen geschickt. Und damit den Grundstein für eine vielseitige sportliche Ausbildung ihrer Tochter gelegt.
Im heimatlichen Bezirk errang sie als Schülerin Meistertitel im Waldlauf und Schwimmen. Zum Diskuswurf kam sie kurioserweise eher aus Bequemlichkeit. Sie sollte die Disken beim Training der Werfer zum Ring zurückbringen. Da ihr der Weg dorthin zu lang war, versuchte sie die für Anfänger oft störrisch wirkende Scheibe wenigstens einen Teil der Strecke zurückzuwerfen. Es lohnte sich. 1962 wurde sie in Weinheim an der Bergstraße nicht nur deutsche Jugendmeisterin im Fünfkampf, sondern auch im Diskuswurf. Bei den Frauen allerdings errang sie ihre beiden ersten deutschen Meistertitel – die heutigen Werferinnen werden staunen – 1964 in anderen Disziplinen. Bei 36 Grad Hitze im Schatten siegte sie im Karlsruher Wildparkstadion für Hannover 96 im Mannschafts-Fünfkampf (zusammen mit Christa Elsler und Christa Sander) und in der 4 x 100-Meter-Staffel (47,3 Sekunden gemeinsam mit Renate Meyer, Christa Elsler und der ehemaligen Weitsprung- und Hürdenmeisterin Erika Fisch). 1967, im Sommer vor ihrem ersten Weltrekord, sah man sie sogar in einer noch schnelleren Staffel der 96er (46,6 Sekunden).
"Frauen drehen sich doch gerne"
Ihr erster 60-Meter-Wurf hinterließ einen großen Eindruck nicht nur in Deutschland. "World Sports", ein damals viel beachtete britisches Magazin, stellte die in deutschen Zeitungen "Diskus-Liesel" genannte Weltrekordlerin als "The fastest Girl in the circle" vor. Sie erhielt auch das Silberne Lorbeerblatt, das sie zu ihrer Enttäuschung nach dem Gewinn der Silbermedaille bei den Europameisterschaften 1966 in Budapest im Gegensatz zu anderen Medaillengewinnern noch nicht bekommen hatte. Bei der Verleihung fragte sie der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke, wie denn eine junge Frau zum Diskuswurf komme. "Frauen drehen sich doch gerne", lautete die Antwort der "jun-gen Frau", die inzwischen an den Rhein gezogen war, um in Köln an der Deutschen Sporthochschule und an der Universität weiter zu studieren. Und nicht zuletzt in Leverkusen bei Gerd Osenberg zu trainieren. Bei jenem ehema-ligen Stabhochspringer, der zum vielseitigsten Erfolgstrainer der Frauen-Leichtathletik wurde. Angefangen mit Liesel Westermann (1967 und 1969) über Heide Rosendahl (1970 und 1972), Ellen Tittel (1975), Ulrike Meyfarth (1982, 1983 und 1984) bis zu Heike Henkel (1992) kamen innerhalb von 25 Jahren neun "Sportlerinnen des Jahres" aus der Schule dieses Mannes. Das ist ein einsamer Rekord.
In keiner der vielen leichtathletischen Disziplinen wurde der Weltrekord so oft von einer deutschen Athletin oder einem deutschen Athleten verbessert wie im Diskuswurf der Frauen: 23 Mal – zuletzt allerdings mehrmals in den Doping-Jahrzehnten des DDR-Sports. Nach der Münchnerin Gisela Mauermayer, der in den dreißiger Jahren insgesamt elf Weltrekordweiten gelangen, hat Liesel Westermann daran den größten Anteil.
Wie schon acht Monate vorher in Sao Paulo glückte ihr der zweite Weltrekord am 24. Juli 1967 im Risei-Stadion der westfälischen Stadt Werdohl im letzten Versuch. Meeting-Chef Kurt Trozowski, einige Jahre vorher als Dreispringer auch in der deutschen Nationalmannschaft aktiv, ließ ein zweites Stahlbandmass von einem mit Blaulicht losfahrenden Polizeiwagen von einem Nachbarverein herbeiholen, um die Weite (62,54 m), mit dem der bisherige Weltrekord der Europameisterin Christine Spielberg (SC Karl-Marx-Stadt) ausgelöscht wurde, zweimal zu vermessen.
1969 "Welt-Leichtathletin des Jahres"
Genau umgekehrt ging es bei den letzten beiden Westermann-Weltrekorden zu: Beim Olympischen Tag im Walter-Ulbricht-Stadion, wie das einstige Berliner Polizeistadion damals hieß, schockte die Wahl-Leverkusenerin am 18. Juni 1969 die Konkurrenz gleich im ersten Versuch mit 62,70 Meter. Sie war damals mit Wut im Bauch angetreten, da sie im Zeitalter der deutsch-deutschen Sportquerelen sehr spät eingeladen und die Heidelberger Olympiafinalistin Brigitte Berendonk als frühere DDR-Bürgerin als Teilnehmerin nicht erwünscht war. Da es "ins kapitalistische Ausland" keine Telefonverbindungen gab, musste der Schreiber dieses Beitrags spornstreichs von Ost- nach West-Berlin eilen, um seine Berichte abzusetzen. Der 63,96-Meter-Wurf, mit dem die Weltrekordserie am 27. September 1969 beim Länderkampf Deutschland-Großbritannien im Hamburger Volksparkstadion abgeschlossen wurde, bewies klipp und klar, dass sie gut eine Woche vorher bei der EM in Athen (Siegerin Tamara Danilowa 59,28 m) ohne den vom Startverbot für Jürgen May ausgelösten Boykott des DLV-Teams beste Siegeschancen gehabt hätte. In einer Abstimmung unter 29 Experten kürte das amerikanische Fachblatt "Women's Track and Field World" die Deutsche zur "Welt-Leichtathletin des Jahres".
Liesel Westermann war 1969 noch viel besser in Form als bei den Olympischen Spielen in Mexico-City. Ein Muskelfaserriss in der Wade hatte sie 1968 kurz vor den Spielen zu einer Trainingspause gezwungen. Zu allem Überfluss setzte Regen ein, nachdem die Rumänin Lia Manoliu bei ihrem fünften Olympiastart im ersten Versuch 58,28 Meter vorgelegt hatte. Aus einem glatten Ring konnte die Weltrekordlerin, die beim Einwerfen mehre 60-Meter-Würfe geboten hatte, nur mit 57,76 Meter antworten. Das reichte lediglich für Silber.
Ganz nah an einem Sieg bei Europameisterschaften, gegen meist um einiges größere und schwerere Athletinnen, war sie 1971 in Helsinki. Sie führte fünf Versuche lang mit 61,68 Meter, bis ihr Faina Melnik aus der Sowjetunion mit 64,22 Meter im letzten Versuch die Goldmedaille und den Weltrekord entriss. Beim letzten Start vor den Olympischen Spielen 1972 in München warf sie beim Länderkampf in Zürich mit 64,96 Meter ihre größte Weite ihrer Karriere. Bald darauf war das furchtbare Attentat auf die israelische Mannschaft für sie ein besonders großer Schock, da sie mehrmals vorher in Israel trainiert hatte und Freunde unter den Opfern betrauerte. Wenige Tage danach kam sie im olympischen Finale über Platz fünf nicht hinaus.
Auch an Olympia 1976 hat sie schlechte Erinnerungen. Im Interview für das Magazin der "Freunde der Leichtathletik" sagte sie Winfried Joch vor Jahresfrist: "Ich wurde vom DLV als Beste der westlichen Welt nicht mehr für die Olympiamannschaft nominiert. Das war für mich der Anlass, Schluss zu machen. Es gab damals keine Trainingskontrollen, so dass häufig diejenigen das Nachsehen hatten, die dopingfrei waren."
Als Athletin war sie für ihr offenes Ohr bekannt
Diese für sie große Enttäuschung im Jahr 1976 trug mit dazu bei, dass Liesel Westermann nach ihrer einstigen sportlichen Rivalin Brigitte Berendonk eine der härtesten Kämpferinnen gegen Doping wurde. Als der Dopingopfer-Hilfe-Verein der Heidelberger Gymnasiallehrerin 2001 die Heidi-Krieger-Medaille überreichte, hielt die ehemalige Weltrekordlerin die Laudatio. Schon als Athletin war sie für ihr offenes Wort bekannt. Sie freute sich zwar, wenn Gegenwind ihren Diskus weiter segeln ließ, aber sie hängte nie ihr Fähnchen in den Wind. Bis in die sechziger Jahre war es Usus, dass Journalisten an den Mannschaftsbesprechungen vor Länderkämpfen als Gäste teilnahmen. Bis sich eines Tages Liesel Westermann zu Wort meldete und forderte: "Weil wir auch einmal Dinge zu bereden haben, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, ist es an der Zeit, dass wir ohne die von uns geschätzten Herren der Presse zusammenkommen." Und fortan war das Gesetz.
Sie war viele Jahre in Solingen und in Köln als Oberstudienrätin tätig. Die TSG Solingen wählte sie zu ihrem ersten Vorsitzenden. Der Verein bietet ein rundes Dutzend Sportarten an - allerdings gehört die Leichtathletik nicht dazu. Zur Entschuldigung meinte sie: "Das ist schmerzhaft für mich." Politisch engagierte sie sich für die FDP nicht nur in Sportausschüssen. Sie kandidierte für den Bundestag, für den Landtag und für das Amt des Oberbürgermeisters. Allerdings vergeblich. Der Landessportbund Nordrhein-Westfalen ehrte sie mit seinem "Sportorden". Und jetzt ist man in Niedersachsen froh, dass Liesel Westermann in jenem Bundesland tätig ist, in dem sie ihre große sportliche Laufbahn begann und ihren Onkel (1922 Vierter im 200-Meter-Lauf der Deutschen Meisterschaften im Duisburger Wedaustadion) als erfolgreichsten Leichtathleten der Familie ablöste.
Liesel Westermann-Krieg wurde als 18. Persönlichkeit vergangener Leichtathletik-Tage in die Hall Of Fame von leichtathletik.de aufgenommen! Vorher würdigten wir dadurch bereits die Leistungen von Thomas Schönlebe, Rudolf Harbig, Bodo Tümmler, Lina Radke, Lutz Drombowski, Willi Wülbeck, Rosemarie Ackermann, Sabine Braun, Heide Ecker-Rosendahl, Lisa Gelius, Armin Hary, Ronald Weigel, Bert Sumser, Oliver-Sven Buder, Ulrike Nasse-Meyfarth, Lilli Henoch und Ilke Wyludda.
Zur Hall Of Fame...