"Stade de France" – eine fliegende Untertasse
Touristen, die spätabends vom Aeroport "Charles-de-Gaulle" mit dem Shuttlebus ins Zentrum der französischen Metropole chauffiert werden, reiben sich nach 20 Minuten Fahrt verdutzt die Augen: rechts, im Dunkel der Pariser Vorortgemeinde Saint-Denis, scheint gerade ein riesiges UFO abzuheben!
Ein Blick in das "Stade de France" (Foto: Chai)
Spitze Antennen ragen aus der bunt illuminierten Oberfläche. Etwas näher gekommen, erkennen die Reisenden, dass es sich um ein Stadion handelt: die Antennen sind in Wirklichkeit 18 Pylone von je 60 Meter Höhe. Sie tragen das Dach des "Stade de France" zum Schutz der 80.000 bis 100.000 Zuschauer vor Regen, Schnee, Sonne und Wind.Die "fliegende Untertasse", wie die Anlieger ihre ultramoderne Arena bezeichnen, ist vom 23. bis 31. August Schauplatz der 9. Leichtathletik-Weltmeisterschaften. Aus größerer Distanz erweckt die gesamte Anlage den Eindruck, als schwebe sie über den davor stehenden Wohnblocks und Viadukten.
61.000 Quadratmeter
Mit ihren metallenen Farben integriert sie sich nahtlos in den graublauen Himmel der Isle de France. Und ist das Flutlicht eingeschaltet, leuchtet die 61.000 qm² große Dachfläche wie ein überdimensionaler Heiligenschein über Saint-Denis – eine verspätete Referenz, so heißt es, an den im 3. Jahrhundert geköpften Namensgeber der Stadt: Sankt Denys.
Im "Office de Tourisme" von Saint-Denis, dem Fremdenverkehrsbüro in der Rue République, sind sie heilfroh, dass dieses UFO im Stadtteil Plaine gelandet ist.
Neben der historischen Basilika, die heute weltweit als erstes Bauwerk der Gotik gerühmt wird, und seiner berühmten Krypta, die bis zum Ende der franzözischen Monarchie als Totenstätte der französischen Könige diente, können die freundlichen Damen, die bereitwillig Auskunft geben, jetzt auf eine weitere Attraktion verweisen: das "Stade de France", die Kathedrale der Moderne gewissermaßen.
Hier wurde im Juni das Finale um den "Coupe des Confédérations" ausgetragen, das die französischen Ballzauberer der "Équipe Tricolore" mit 1:0 gegen Kamerun gewannen.
Auch Golden-League-Schauplatz
Hier im "Stade de France" machte im Juli die lukrative Golden League-Serie genauso Station ganz in der Nähe die "Tour de France" mit den drei deutschen Rennställen "Bianchi", "Telekom" und "Gerolsteiner". Und hier spielten kurz darauf die "Rolling Stones", die größte Rock'n'Roll-Band aller Zeiten, die auf ihrer Europa-Tournee das gigantische Stadion, dem sie bereits 1998 einen Besuch abstatteten, in eine Art Hexenkessel verwandelten.
Die Nachrichten, die aus Saint-Denis in die Außenwelt gelangen, sind mittlerweile fröhlicher und vor allem sportlicher Natur. Früher war das höchst selten der Fall. Hauptstadt des ärmsten Départements Frankreichs, hat mal die Tageszeitung "Le Monde" geschrieben. Von 20 Prozent Arbeitslosigkeit war auch die Rede, vom geringsten Bildungsgrad im Land, von Jugendgangs, die sich nachts brutale Straßenschlachten lieferten. Englische Zeitungen titelten Saint-Denis gar in die Nähe brasilianischer Slums.
Aber seit dem 10. Juni 1998, dem Tag des Eröffnungsspiels der Fußball-Weltmeisterschaft, war alles anders, unverkennbar anders. Wie ein UFO kam das "Stade de France" mitten im vermeintlichen Elend angeflogen, ein UFO der Superlative. Ausgerechnet dort, wo abgewanderte Industrien, viel Dreck und die deutsche Wehrmacht tonnenweise Altöl deponiert hatten, an einer Stelle, die nicht einmal tauglich schien, weitere 4.000 Sozialwohnungen abzulagern, ließ der französische Staat sein Prestige-Objekt errichten, 500.000 Tonnen schwer und 40 Meter hoch.
Volle Hütte
Die Macher der Leichtathletik-Weltmeisterschaften, die in einem Gebäude der Pariser Nahverkehrszentrale am "Quai de la Rapée" auf drei Etagen untergebracht sind, wollen dieses monströse "Stade de France", wenn möglich, bis auf den letzten Platz füllen. Gabriel Essar, Generaldirektor im Organisationskomitee, war schon bei der Fußball-WM im Einsatz. Er hofft auf mindestens 400.000 Zuschauer, die sich an neun Wettkampftagen bei 46 Wettbewerben in der Arena tummeln.
2001 in Edmonton waren 402.000 Menschen live dabei und zwei Jahre vorher in Sevilla sogar 498.000. "Es wäre ein Traum, wenn wir 480.000 Tickets verkaufen würden", sagte OK-Chef Essar und strahlte, "dann hätten wir jedesmal ein volles Haus." Da der untere Tribünenabschnitt um 15 Meter zurück geschoben wird, dadurch die Kunststoffbahn und die Sprunggruben frei gegeben werden, gehen nämlich "nur" 55.000 Karten pro Veranstaltungstag in den Handel.
Es brummte im Vorverkauf
Bernhrd Amsalem, Präsident des Französischen Leichtathletik-Verbands (FFA), schlug ebenso optimistische Töne an. "Der Run auf die Karten", staunte er, "hat unsere Erwartungen deutlich übertroffen." In den 5.400 Vorverkaufsstellen brummt es. "Mit attraktiven Angeboten", fügte Amsalem geschwind hinzu, "sollen die Fans angelocket werden."
Ein ähnliches Fiasko wie beim Grand Prix-Finale im September 2002 im gähnend leeren "Stade de Charléty", im Süden von Paris gelegen, schloss er kategorisch aus. Als der US-Amerikaner Tim Montgomery den 100-Meter-Weltrekord auf 9,78 Sekunden steigerte, waren nur wenige Schaulustige im Stadion präsent. "Mit einer WM kann mann das nicht vergleichen", beruhigte Amsalem die Gemüter und prophezeite gar, "dass wir an den meisten Tagen ausverkauft sind".
Werbetrommel gerührt
Schon seit Monaten wird die Werbetrommel tatkräftig gerührt. Muriel Hurtis, Europameisterin über 200 Meter im Freien und in der Halle, ist offizielle WM-Botschafterin. Colette Besson, 1968 in Mexico Olympiasiegerin über 400 Meter Hürden und inzwischen begeisterte Hobbyjoggerin, Ski-Heros Jean-Claude Killy, Tennis-Crack Yannick Noah oder Prinz Albert von Monaco sind die bekanntesten Promis, die für das sportliche Mega-Event, von dem 3500 Medienvertreter berichten werden, eifrig Reklame laufen.
Damit rund 2000 Teilnehmer aus 210 Nationen, die im "Cité International Universitaire de Paris", dem noblen Athletendorf, untergebracht sind, auch in einem proppevollen "Stade de France" um die begehrten Medaillen kämpfen, sind lustige Fernsehspots gedreht worden. Sergej Bubka, der "Sputnik" aus der Ukraine, blickt beispielsweise mit lustiger Miene auf drei Telefonkabinen, die übereinander gestapelt seine Weltrekordhöhe darstellen.
Vielleicht werden die deutschen Stabartisten, mit dem amtierenden Hallenweltmeister Tim Lobinger an der Spitze, mit Richard Spiegelburg und Lars Börgeling, die 6,15 Meterm am sechsten Wettkampftag persönlich in Augenschein nehmen. Schön wär's ja.