Thomas Kurschilgen - „Verbindliche Kriterien“
Das Olympia-Aufgebot des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) für die Olympischen Spiele in London (27. Juli bis 12. August) steht. Nach der Bekanntgabe wurde über einzelne Nominierungen, die auf der Basis festgelegter Nominierungsrichtlinien vorgenommen wurden, diskutiert. Im Interview mit leichtathletik.de erläutert DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen noch einmal, auf welcher Grundlage der Bundesausschuss Leistungssport (BAL) seine Entscheidungen zur Nominierung für Olympia getroffen hat.
Thomas Kurschilgen, der DOSB hat am Mittwoch auf Vorschlag des Deutschen Leichtathletik-Verbandes das Aufgebot für London nominiert. Anschließend gab es unter anderem Kritik von der Hochsprung-Olympiasiegerin Ulrike Nasse-Meyfarth bezüglich der Nominierung von Ariane Friedrich. Auf welcher Grundlage der Nominierungsrichtlinien hat der Bundesausschuss Leistungssport (BAL) des DLV den Nominierungsvorschlag vorgenommen?Thomas Kurschilgen:
Zunächst einmal steht es jedem frei, seine Meinung und damit seine subjektive Ansicht und Einstellung zu einer Nominierungsentscheidung zu äußern. Sie sollte sich jedoch sachgerecht und auf der Basis des Wissens um Kriterien vollziehen. Das Präsidium des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) behält sich die Möglichkeit vor, Athleten und Athletinnen zu den Olympischen Spielen zu nominieren, die die Normanforderungen im Nominierungszeitraum nicht erfüllt haben. Hierzu ist in der Regel ein sogenannter „Einzelfallantrag“ des Spitzenfachverbandes notwendig. Der BAL hat diese Sonderanträge für Matthias de Zordo, Ralf Bartels und Ariane Friedrich eingebracht. Dabei habe alle drei die formale Voraussetzung für einen Nominierungsvorschlag erfüllt, denn Ralf Bartels und Matthias de Zordo haben die A-Norm aus dem Jahr 2011 und Ariane Friedrich hat in diesem Jahr mit zweimal übersprungenen 1,92 Metern die B-Norm. Da es im Hochsprung der Frauen keine A-Norm-Erfüllerin gibt, kann laut IAAF-Reglement eine B-Normerfüllerin für den Olympia-Start vorgeschlagen werden. Unsere Bewertung erfolgte nach sportfachlichen Kriterien.
Ariane hat sich im Dezember 2010 eine schwere Achillessehnenverletzung (Ruptur) zugezogen. Nach einem umfassenden Behandlungs- und Rehabilitationsprogramm befindet sie sich in einem systematischen Trainingsprozess in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2012. Ihre Saisonbestleistung von 1,92 Metern erzielte sie im Rahmen ihres Einstiegswettkampfes aus verkürztem Anlauf. Durch widrige Wetterverhältnisse und zuletzt durch eine Magen-Darm-Infektion wurde ihre sportliche Weiterentwicklung in erheblichem Maße gestört. Ihre wesentlichen Zubringerleistungen im Trainingsprozess lassen jedoch einen deutlichen Leistungsanstieg in den folgenden Wochen prognostizieren. Mit ihrer derzeitig realisierten Leistung von 1,92 Metern nimmt sie derzeit den 13. Platz in der Weltbestenliste ein, mit der geforderten Normanforderung ist eine Platzierung unter den Top Neun der Weltbestenliste gegeben.
Bei einer weiteren Formentwicklung von Ariane im methodischen Trainingsaufbau und der hohen internationalen Wettkampfkompetenz sehen wir für sie ein Leistungsniveau zwischen 1,95 und 1,97 Metern zu den Olympischen Spielen 2012. Hieraus können wir auf der Basis der Analysen der Weltmeisterschaften und der Olympischen Spiele der letzten acht Jahre sowie der besonderen Bewertung des aktuellen Weltstandes im Hochsprung die Prognose der Finalfähigkeit ableiten.
Der Nominierungsprozess ist trotz klarer Nominierungsrichtlinien immer eine sehr komplexe und schwierige Angelegenheit. Was waren die Grundüberlegungen bei den Vorschlägen zur Olympianominierung für London?
Thomas Kurschilgen:
In der Tat gestalten sich Entscheidungen im Nominierungsprozess in den Disziplinen mit mehr als drei Normerfüllern und insbesondere bei Athleten, die zum Nominierungszeitpunkt in einem geringen Leistungsabstand zur Normanforderung stehen, als komplex und schwierig.
Letzteres könnten wir vermeiden, wenn wir „Einzelfallregelungen“ immer ausschließen. Wir stellen uns aber diesem Prozess wohlwissend, dass sich hieraus stets auch eine öffentliche Diskussion ergibt und bedingt durch den einzubeziehenden Prognosefaktor sich die Entscheidungen nach objektiven und subjektiven Kriterien vollziehen. Basis für die Nominierungsentscheidungen bilden die Allgemeinen Nominierungsrichtlinien 2012 und die mit dem DOSB vereinbarten sportartspezifischen Nominierungskriterien. Personen und Namen können und dürfen in der Nominierungsbetrachtung überhaupt keine Rolle spielen. Grundlegender Ansatz für eine Nominierungsentscheidung zu den Olympischen Spielen ist dabei die Optimierung des Olympiaergebnisses der Gesamtmannschaft durch einen Final- oder Medaillenplatz eines einzelnen Leichtathleten oder einer Staffel.
Bei der Entscheidung zu den sogenannten Einzelfallanträgen haben wir uns in Rangfolge an nachfolgenden vier Kriterien orientiert:
Der Leistungs- und Platzierungsprognose zum Zeitpunkt des Olympischen Wettbewerbs im Sinne einer Finalchance, der nachgewiesenen Finalfähigkeit bei internationalen Meisterschaften im Zeitraum von 2010/2011, dem aktuellen Leistungsstand der Disziplin zum Nominierungszeitpunkt im Weltmaßstab und der realisierten Leistung des Athleten zum Nominierungszeitpunkt im Kontext der Normanforderung und der aktuellen Weltbestenliste. Auf dieser Basis hat sich der Entscheidungsprozess für die Vorschläge zu den Einzelfallanträgen an das DOSB-Präsidium vollzogen.
Darüber hinaus haben wir dem DOSB alle weiteren Athleten benannt, die sich in ihrem Leistungsniveau nahe den geforderten Olympia-Normen befanden.
Ebenfalls diskutiert wurde die Nicht-Nominierung der Marathonläuferin Anna Hahner, der 14 Sekunden zur A-Norm fehlten. Warum hat sie kein Olympia-Ticket bekommen?
Thomas Kurschilgen:
Anna Hahner hat im April des Jahres ein phantastisches Marathonrennen mit einer Zeit von 2:30:14 Stunden gezeigt, das unser aller Hochachtung verdient. Schon zum damaligen Zeitpunkt wurde die Frage diskutiert, ob der DLV eine Ausnahmeregelung beantragen werde und die Kommunikation mit dem persönlichen Trainer Wolfgang Heinig und der Athletin aufgenommen. Einzelfallanträge werden jedoch vom DOSB-Präsidium für die Leichtathletik wie für alle anderen Sportarten erst zum 4. Juli behandelt und getroffen.
Unter Würdigung der oben genannten Kriterien konnte aus unserer sportfachlichen Sicht ein Einzelfallantrag für Anna Hahner nicht erfolgen. Infolge der stetigen Leistungsentwicklung im Marathonlaufen nimmt die Athletin mit ihrer im April erzielten Zeit den 42. Platz in der bereinigten aktuellen Weltbestenliste ein. Mit dieser weicheren Norm und der schlechteren Platzierung im Weltmaßstab im Vergleich zu den anderen 46 leichtathletischen Disziplinen wurde den Besonderheiten der Disziplinspezifik im Nominierungsprozess bereits Rechnung getragen. Zudem wurde der Nominierungszeitraum rückwirkend zum 1. April 2011 erweitert
Persönlich wünsche ich jedem Athleten, der die Olympia-Norm knapp verfehlt hat, die Teilnahme an den Olympischen Spielen, aber wir müssen uns doch in unseren Entscheidungen an nachvollziehbaren und für alle verbindlichen Kriterien orientieren. Es gibt zahlreiche weitere Athleten, die zum jetzigen Zeitpunkt ähnlich wie Anna Hahner zu bewerten sind. Beispielsweise Mark Frank im Speerwerfen, Nadine Hildebrand im Hürdenlaufen, Markus Esser im Hammerwerfen oder Diana Sujew und Carsten Schlangen. Steffen Uliczka hat sich gestern mit einem tollen Lauf und persönlicher Bestzeit für Olympia qualifiziert. Hier hatten wir uns im Frühjahr beim DOSB-Präsidium infolge der Besonderheiten der Wettkampfstruktur im Lauf für eine Erweiterung des Nominierungszeitraumes bis einschließlich zum 6. Juli eingesetzt. Für Diana Sujew und Carsten Schlangen besteht noch die Möglichkeit beim heutigen Rennen in Bottrop die Olympiateilnahme zu schaffen.
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