| Interview der Woche

Thomas Röhler: „Ich wusste: Ich bin bereit für 90 Meter“

Was für eine Nervenstärke! Als es drauf ankam, packte Thomas Röhler (LC Jena) den dritten 90-Meter-Wurf seiner Karriere aus und krönte eine herausragende Saison mit dem Olympiasieg. Warum dieser noch kurze Zeit zuvor wenig realistisch erschien, wie er sich im Olympiastadion von Rio auf seine Stärke fokussieren konnte und wie er seinen historischen Erfolg – den ersten deutschen Speerwurf-Olympiasieg seit 44 Jahren – bewertete, erklärte er anschließend in der Mixed Zone.
Silke Morrissey

Thomas Röhler, Sie stehen hier und haben die Goldmedaille um den Hals. War das jetzt der perfekte Wettkampf?

Thomas Röhler:

Ich kann nicht mehr so laut reden – ich klinge jetzt ein bisschen wie mein Trainer (lacht). Also: Wenn man diese Medaille in den Händen hält, dann darf man auch als Speerwerfer mal das Wort „perfekt“ in den Mund nehmen. Seit 44 Jahren hat Deutschland wieder einen Speerwurf-Olympiasieger!

Wie wichtig ist diese Goldmedaille für das deutsche Team?

Thomas Röhler:

Die ist wichtig für alle, die auf Statistiken stehen. Wir haben extrem geile vierte Plätze gehabt. Wenn ich zum Beispiel an Kai [Kazmirek; Zehnkampf] denke… Es war eine schwierige Woche, das muss man sich eingestehen. Der Druck auf uns drei Jungs, die wir heute da unten standen, hätte größer nicht sein können. Ich habe gestern Fernsehen geschaut, und da klang es fast, als ob drei Medaillen von uns gefordert würden. Aber ich bin heute Morgen mit einem guten Gefühl aufgewacht. Ich habe das für mich richtig verarbeitet, ich bin hier angereist, um zu gewinnen. Ich glaube, das hat sich jeder vorgenommen, der sich hier eine Chance ausgemalt hat.

Sicher auch der Weltmeister aus Kenia Julius Yego. Der hat mit 88 Metern im zweiten Versuch vorgelegt…

Thomas Röhler:

Er hat mich ganz schön gefordert. Ich wusste auch, dass die 87 Meter aus dem ersten Wurf nicht reichen würden. Ich bin dran geblieben und habe 90 Meter geworfen! Ich glaube, das ist alles, was heute gezählt hat. Die Brasilianer haben hier eine Menge über den Speerwurf gelernt. In der Quali haben sie sich über 70 Meter gefreut. Jetzt haben sie sich über 90 Meter gefreut. Ich habe gehört, dass auch ein Einwerfer dabei war, der relativ gut war – ich bin gespannt, ob der auch schon über die 90 Meter ging. Das ist schon etwas Besonderes, so oft über 90 Meter zu werfen. Jetzt gerade fühle ich mich schon als Speerwerfer!

Sie haben sich während des Wettbewerbs Momente für sich genommen, auf dem Boden liegend, abseits von den anderen. Was ging da in Ihnen vor?

Thomas Röhler:

Ich musste heute bei mir bleiben. Ich hatte ein klares Ziel. Ich hatte ein Ziel, rein Speerwurf-mäßig, das habe ich anvisiert und mir dauerhaft angeguckt. Das wollte ich nicht aus den Augen verlieren. Das ist bei dem 84er passiert, der vor dem 90er kam, der so extrem hoch war. Da hatte ich dieses Ziel aus den Augen verloren. Und als ich da saß, habe ich einfach mal Luft getankt. Es ist schon ziemlich anstrengend da draußen.

Was genau bedeutet das: Sie hatten ein Ziel, das Sie nicht aus den Augen verlieren durften?

Thomas Röhler:

Natürlich hatte ich allgemein das Ziel, weiter als 87,40 Meter zu werfen. Aber ich hatte auch einen konkreten Punkt vor Augen. Um das kurz zu erklären: Wir arbeiten viel mit Punkten. Wenn ich jetzt hier etwas weit werfen wollte, zum Beispiel ein Streichholz, dann würde ich auch hier einen Punkt anvisieren und dorthin werfen. Genauso machen wir es im Stadion. In diesem Fall habe ich mir diesen Punkt per Bild nach der Quali gesucht. Da habe ich noch mal Turku [Anm. d. Red.: Dort hatte er seine ersten 90-Meter-Würfe gezeigt] und hier verglichen und gemerkt: Du hättest es ein bisschen leichter haben können, wenn du ein bisschen flacher geworfen hättest. Das sind Spielereien. Da sitzt man mal eine halbe Stunde mit dem Trainer zusammen. Das sind dann Sachen, die Olympiasieger machen und die andere vielleicht nicht machen…

Was ging in Ihnen vor, als Julius Yego nach dem vierten Versuch im Rollstuhl aus dem Stadion gebracht wurde?

Thomas Röhler:

In dem Moment saß ich ja da und habe es erst gar nicht realisiert. Dann sah ich, wie der Rollstuhl reingerollt wurde und dachte: Was ist jetzt los? Es hat sich ja gar keiner verletzt. Im Endeffekt hat er sich eine Zerrung im Oberschenkel geholt, das sah jetzt schon wieder ganz gut aus. Das ist Sport, das passiert, mir ist es bei der EM passiert, ihm ist es nun leider hier passiert. Er hätte bestimmt gerne bis zum letzten Wurf mitgekämpft. Aber mir darf das nach so einer Saison jetzt, glaube ich, völlig egal sein. Ich habe 90,30 Meter geworfen. Der zweitweiteste Wurf je bei Olympischen Spielen. Mehr Worte braucht es dafür nicht.

Gab es in den vergangenen Wochen nach Ihrer Rückenverletzung, zugezogen bei der EM in Amsterdam, einen Moment, in dem das Ziel Olympiasieg nicht mehr realistisch erschien?

Thomas Röhler:

Diese Gedanken habe ich in den Hintergrund gedrückt. Die erste Woche nach der EM ging es mir nicht gut. Und die zweite Woche ging es mir auch nicht gut. Genau eine Woche vor Rio habe ich im Training noch mal gedacht: Oh nee, das muss jetzt nicht unbedingt sein. Da hat sich die Verletzung wieder gemeldet. Aber toi, toi, toi – da habe ich ganz oft auf Holz geklopft: In Rio war sie dann wirklich weg. Und nach der Quali hatte ich das Gefühl in mir: Okay, du bist bereit für 90 Meter. Du fühlst dich so, wie du dich fühlen musst, um weit zu werfen.

In der Qualifikation selbst haben Sie sich aber noch zurück gehalten. Mit 83,01 Metern ging nur ein Wurf knapp über die direkte Quali-Weite.

Thomas Röhler:

Das war ein risky Plan, aber er hat funktioniert. Es war das erste Mal, dass zwei Tage zwischen einer Qualifikation und dem Wettkampf liegen. Den Zeitplan gab es schon vor zwei Wochen, mein Trainer [Harro Schwuchow] und ich hatten also genug Zeit, uns im Vorfeld Gedanken zu machen. Klar, 83,01 Meter… In der Zeitung stand „Röhler zittert sich ins Finale“, das fand ich recht amüsant. Aber wir waren damit zufrieden, wie es im Endeffekt ausgegangen ist. Vielleicht mache ich es das nächste Mal im Zweiten, das wäre für alle entspannter. Ich habe ganz schön Prügel gekriegt von zuhause (lacht). Aber ich glaube, die haben jetzt alle einen Grund zur Freude.

Was hat Ihr Trainer Harro Schwuchow Ihnen während des Wettkampfs mitgegeben?

Thomas Röhler:

In dem Stadion war es sehr laut. Wir haben eine Menge Zeichensprache geübt. Er ist einfach nur super zufrieden, super happy. Wir sind gemeinsam Olympiasieger geworden. Da gehört schon eine Menge Leute mehr dazu als nur meine Person, denen ich auch allen sehr dankbar bin.

Was denken Sie: Was wird sich für Sie verändern, jetzt, wo Sie Olympiasieger sind?

Thomas Röhler:

Die Aufmerksamkeit für den Speerwurf wird weiter steigen. Letztes Jahr standen wir alle zusammen in Peking und ich war Vierter mit einer super Serie. Jetzt habe ich eine super Serie geworfen, aber jetzt war dieser eine Wurf dabei. Dieser eine Wurf, der diese eine Medaille gebracht hat. Ich bin selbst gespannt, was sich in meinem Leben jetzt verändert. Aber in meiner Person wird sich nichts ändern.

Und wie war es gerade da ganz oben auf dem Treppchen?

Thomas Röhler:

Das ist etwas ganz Besonderes. Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. 

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