Jeremy Wariner - Der Erbe von Michael Johnson?
Wer vor eineinhalb Wochen bei der Team Challenge in München ganz genau hingesehen hat, konnte sich nur verwundert die Augen reiben. Im Duell mit dem deutschen Europameister Ingo Schultz spulte der gertenschlanke Jeremy Wariner im US-Trikot über 400 Meter eine locker-leichte Vorstellung ab, bei der er den Bergedorfer um 15 Meter abhängte und vor ihm nach 44,91 Sekunden frech austrudelte.
Jeremy Wariner könnte in Athen eine große Karriere einläuten (Foto: USOC)
Das 20-jährige Supertalent gab im Olympiastadion ein bestechendes Europadebüt. "Vorher kam ich höchstens nach Jamaika oder Barbados, aber nie weiter weg." Nicht einmal zu einer Jugend- oder Junioren-WM hatte er es bislang geschafft. Jetzt entdeckt er als kommender Olympia-Teilnehmer plötzlich neue Kulturen. "Das ist ein riesiges Erlebnis, besonders in meinem Alter."Im US-Team, das sich auf Kreta für die Spiele in Form brachte, fühlt sich der Youngster wohl. "Ich werde behandelt wie jeder andere auch." Doch Jeremy Wariner, der nur wegen eines Stipendiums die Leichtathletik dem American Football vorgezogen hat, ist ausgesprochen introvertiert. Selbst Journalisten aus seiner Heimat gegenüber gibt er sich eher wortkarg. "Das hängt davon ab, wen ich um mich habe. Zuhause, wo ich die Leute kenne, bin ich schon anders. Aber ich öffne mich jetzt auch immer mehr."
Konzentriert auf sich
Seine zurückhaltende Art könnte dem Viertelmeiler aber bei seiner großen Stärke helfen. Er versteht sich darauf, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Das will er auch in Athen so halten, wo er als Goldfavorit antreten wird. "Im Rennen kannst du dich nicht mit den anderen beschäftigen, du musst dich auf dich konzentrieren."
Mit beeindruckenden 44,37 Sekunden führt er als Saisonkomet die Weltjahresbestenliste über 400 Meter an. Dieser Leistungssprung kam auch für Jeremy Wariner, der Weltrekordhalter Michael Johnson zu seinem großen Vorbild erklärt ("Er ist der größte Läufer aller Zeiten"), überraschend: "An Olympia habe ich erst gedacht, als es im Sommer plötzlich richtig gut lief und ich beständig unter 45 Sekunden blieb." Sechsmal ist ihm das im Olympiajahr schon gelungen.
Das Erfolgsgeheimnis könnte in einer bestimmten Person stecken. Trainer Clyde Hart, der früher auch Michael Johnson unter seinen Fittichen hatte. Über ihn berichtet Jeremy Wariner: "Er hat mir schon am Anfang gesagt, dass ich es ins Olympiateam schaffen würde. Er wusste nur nicht, wann es soweit sein könnte. Ich rechnete deshalb erst 2008 damit."
Fähigkeiten wie Michael Johnson
Clyde Hart kann den Vergleich ziehen zwischen dem einen, der inzwischen zurückgetreten ist, und dem anderen, der gerade auftaucht und in Athen Olympia-Geschichte schreiben könnte. Er hält den Studenten für einen legitimen Erben: "Ich dachte immer, Michael Johnson wäre der einzige, der all diese Fähigkeiten hat. Aber jetzt weiß ich, auch Jeremy bringt all das mit."
Trotzdem drückt er auf die Euphoriebremse und will seinen neuen Schützling den eigenen Weg gehen lassen. "Sie sind zwei verschiedene Personen. Jeremy soll jetzt gegen seine Gegner laufen und nicht gegen den Schatten eines Michael Johnson."
Jeremy Wariner lässt sich jetzt im Vorfeld seines ersten internationalen Höhepunkts nur schwer eine Olympiaprognose entlocken. "Ich will dort weiter hart laufen und auf mein Finish setzen", sagt er. Doch dann auf Nachfrage schätzt er doch noch: "Ich glaube, man muss für den Olympiasieg 44,2 oder 44,3 Sekunden laufen." Er selbst ist näher dran an dieser Zeit als jeder seiner Widersacher. Und spätestens seit München weiß auch Leichtathletik-Europa: der Kerl hat das drauf! Das dürfte sich bis nach Athen herumgesprochen haben.
400 Meter der Männer bei den Olympischen Spielen in Athen: Vorläufe am Freitag, 20. August, Halbfinale am Samstag, 21. August, und Finale am Montag, 23. August.
Olympische Leichtathletik in Athen – Kompakt auf leichtathletik.de...