| Interview

Tobias Unger: "So ein Rennen erlebt man nur einmal"

Der beste deutsche Sprinter dieses Jahrtausends ist am Ende seiner Laufbahn angekommen. Bei einem Schüler- und Jugendsportfest seines Vereins VfB Stuttgart wurde der 34-Jährige am Sonntag verabschiedet. Seit 2013 arbeitet Unger als Athletiktrainer mit den Talenten des Fußball-Bundesligisten. Im Interview mit Leichtathletik blickt der „Schwabenpfeil“ auf seine Karriere zurück und erzählt, warum es für die EM nicht mehr gereicht hat.
Martin Neumann

Tobias Unger, mit welchen Gefühlen haben Sie Ihren Abschied von der Leichtathletik erlebt?

Tobias Unger:
Mit ganz gemischten. Auf der einen Seite ist eine lange Karriere zu Ende gegangen. Auf der anderen hatte ich eine schöne Verabschiedung mit Freunden und Wegbegleitern, bei der viele Kinder und Jugendliche dabei waren. Ihnen gehört die Zukunft der Leichtathletik.

Wann und wie kam es zur Entscheidung, die Spikes an den Nagel zu hängen. Eigentlich wollten Sie ja noch bei der EM in Zürich dabei sein …

Tobias Unger:
... es war ein schleichender Prozess. Nach dem Riss einer Kniesehne Anfang 2013 hat der Aufbau längere Zeit in Anspruch genommen als zunächst gedacht. Außerdem war einfach nicht mehr die Quantität im Training möglich, um bei Deutschen Meisterschaften um die Medaillen zu laufen. Diesen Anspruch hatte ich immer an meine eigene Leistung.

Ein Wegbegleiter war über viele Jahre Ihr Trainer Micky Corucle. Wie hat er Ihren Entschluss aufgenommen?

Tobias Unger:
Wir waren über 19 Jahre ein Team. Ich bin ihm sehr dankbar für diese Zeit. Obwohl er einen ganz anderen Job und eine Familie hat, war er immer für mich und die Trainingsgruppe da. Er hat auch nicht versucht, mich umzustimmen. Mit EM-Silber 2012, Olympia in London und dem deutschen Staffelrekord in Weinheim hatte ich ein schönes Karriereende.

Sind Sie eigentlich lieber 100 oder 200 Meter gelaufen?

Tobias Unger:
Die 200 Meter, ganz klar. Leider konnte ich die Strecke nach den ersten Achillessehnenproblemen im Jahr 2005 nicht mehr so oft laufen. Speziell beim Training musste ich kürzer treten. So musste ich vermehrt auf die 100 Meter setzen. Aber das hat ja auch ganz gut geklappt (lacht). Wenn man aber international als deutscher Sprinter eine Chance haben will, muss man auf die 200 Meter setzen. Da ist die Leistungsdichte nicht ganz so hoch wie über die 100 Meter und auch ein großes Finale für deutsche Sprinter immer noch möglich.

Wenn Sie auf anderthalb Jahrzehnte an der deutschen Spitze zurückblicken: Welches waren die besten drei Rennen Ihrer Karriere?

Tobias Unger:

Erstens: Die Hallen-EM 2005 in Madrid mit dem Titel über 200 Meter. Zweitens: Das Olympia-Finale und Platz sieben 2004 in Athen über 200 Meter. Drittens: Der deutsche 200-Meter-Rekord von 20,20 Sekunden 2005 in Wattenscheid im Vorfeld der WM in Helsinki.

Sie haben das Olympia-Finale 2004 in Athen genannt: Die Griechen waren damals richtig sauer, weil ihr Volksheld Kostadinos Kenteris nach einem „Motorradunfall“ nicht starten konnte. Vielmehr wollte er zusammen mit Ekaterini Thanou eine Dopingprobe umgehen. Vor dem Finale gab es ein legendäres Pfeifkonzert. Wie haben Sie das Rennen erlebt?

Tobias Unger:
Die Stimmung war total aufgeheizt. Der Startschuss sollte gegen 22:30 Uhr fallen, durch das Pfeifkonzert hat sich dann alles um 20 Minuten verzögert. Aber ganz ehrlich: Ich habe die Zeit richtig genossen. Schließlich stand ich in einem olympischen Finale. Rückblickend kann ich sagen: So ein Rennen erlebt man nur einmal in seiner Karriere.

Das WM-Finale von Helsinki über 200 Meter haben Sie bei Ihrer Aufzählung nicht genannt. Am 11. August 2005 waren Sie der letzte Deutsche, der Usain Bolt, der sich im Finale verletzt hatte, geschlagen hat. Diesen „Rekord“ könnten Sie für die Ewigkeit behalten.

Tobias Unger:
Das schon, aber er war ja gerade 19 Jahre alt und im Finale wie gesagt angeschlagen und hatte noch längst nicht das Niveau wie einige Jahre später. Heute würde ich das wohl nicht mehr schaffen (lacht). Eine weitere schöne Erinnerung ist es trotzdem.

Sie haben auch weniger schöne Weltmeisterschaften erlebt. Nach dem Vorlauf-Aus 2003 in Paris wurden Sie nach 21,33 Sekunden als „WM-Tourist“ bezeichnet. Haben Sie schon damals ans Aufhören gedacht oder hat Sie die Erfahrung stärker gemacht?

Tobias Unger:
Ans Aufhören habe ich nicht gedacht. Die WM hat mich vielmehr darin bestärkt, voll auf den Sport zu setzen. Ich bin professioneller geworden, habe das Training intensiviert, mit einem Ernährungsberater zusammengearbeitet. Mir war klar: So will ich mich nicht noch einmal im DLV-Trikot präsentieren. Ich weiß nicht, ob ich genauso reagiert hätte, wenn ich beispielsweise mit 20,70 Sekunden ins Halbfinale gekommen wäre. So war Paris ein Weckruf für mich.

Welche Begegnung hat Sie in Ihrer Karriere besonders geprägt?


Tobias Unger:
Die mit Frankie Fredericks. Ich war bei der WM 1993 in Stuttgart mit dem Württembergischen Verband im Stadion. Da ist er 200-Meter-Weltmeister geworden. Später bin ich gegen ihn gelaufen und war 2004 in Monaco bei seinem letzten Rennen dabei. Er ist ein sympathischer und menschlicher Typ, der gleichzeitig mit aller Konsequenz für den Erfolg gearbeitet hat. Das hat er auch in seiner Zeit als DLV-Berater vorgelebt.

Der deutsche Männersprint ist so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wann wird der erste Deutsche die 100 Meter unter zehn Sekunden laufen?

Tobias Unger:
Das ist schwer zu sagen. Ich glaube aber, dass der eingeschlagene Weg mit dem langen Trainingslager in Florida und mit Rennen früh in der Saison gegen starke Konkurrenz der richtige ist. Wenn man täglich sieht, wie die Weltspitze trainiert, dann profitiert man. Erwischen die deutschen Sprinter einen perfekten Tag mit den richtigen Temperaturen und gutem Wind, kann es schon bald so weit sein.

Und wer wird diese Marke „knacken“?

Tobias Unger:
Für mich haben Julian Reus und Lucas Jakubczyk die größten Chancen.

Sie arbeiten als Athletiktrainer in der Jugend des Fußball-Bundesligisten VfB Stuttgart. Werden Sie trotzdem die Leichtathletik weiter verfolgen?

Tobias Unger:
Ganz klar: Denn Leichtathlet bleibt man mit ganzem Herzen. Wenn es zeitlich klappt, will ich mir auch die Team-EM in Braunschweig ansehen. Die DM in Ulm ist sowieso geplant.

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