Vive l'athlètisme! Es lebe die Leichtathletik
Die Zuschauer auf den Rängen, die Franzosen vor allem, verwandeln das "Stade de France" tagein, tagaus in ein Tollhaus. Ihre Begeisterung verschafft sich lärmend Bahn, heiter laufen die La Olà-Wellen um das Oval, brechen aus, verebben und brechen wieder aus. Und unten auf dem roten Kunststoff fighten die Athleten der "Grande Nation" um die heiß begehrten Medaillen.
Franzosen begeistern Franzosen: Marc Raquil und Leslie Djhone. (Foto: Kiefner)
Oben auf den Rängen toben derweil 60.000 und mehr aus Leibeskräften. "Allez, les bleus", skandieren sie, so laut und vernehmlich wie anno 1998, als Zinedine Zidane, der große "Zizou", wie sie ihren Fußball-Zauberer liebevoll rufen, die Kollegen aus der "Equipe tricolore" im finalen Match gegen die Brasilianer zum denkwürdigen WM-Titel führte.Touristen, die abends vom Aeroport "Charles-de-Gaulle" mit dem Shuttlebus ins Zentrum chauffiert werden, trauen meist ihren Augen und Ohren nicht. Rechts, im Dunkel der Vorortgemeinde Saint-Denis, scheint ein UFO abzuheben, eine "fliegende Untertasse", die obendrein einen Heidenlärm erzeugt, weil deren Insassen von ihren Emotionen geradezu mitgerissen werden.
Vergessen ist die französischen Olympia-Schmach
Vive l'athlètisme! Es lebe die Leichtathletik. Passé ist die Schmach der olympischen Jahrhundertspiele von Sydney, wo die damals arg gebeutelten Franzosen ohne Medaillensegen geblieben sind. Alles längst vergeben und verziehen. Jean-Claude Killy, der einstige Ski-Heros, kam dieser Tage aus dem Staunen nicht heraus. "Ich wusste gar nicht", so Killy, "dass die Sportart eine solche Faszination auf das Publikum ausüben kann." Als Marc Raquil, der blondierte Jüngling, den vor der WM bestenfalls gut informierte Insider kannten, auf der Rennstrecke über 400 Meter eingangs der Zielgeraden kraftvoll von ganz hintern auf den Bronze-Rang vorpreschte, flippte das zuvor hypernervöse Volk vollends aus.
Marc Raquil, der sich angesichts der riesigen Erwartungen gefühlt haben muss wie Atlas, die Sagengestalt, die in grauer Vorzeit die Erdkugel auf seinen Schultern getragen haben soll, und Leslie Djohne, sein Freund und Teamkollege, Fünfter in diesem irren Rennen, flogen mit ausgestreckten Armen wie beschwipste Hummeln über den roten Kunststoff, dass "L'Equipe", Frankreichs täglich erscheinende Sportzeitung, diesen Schnappschuss gleich sechsspaltig veröffentlichte, natürlich in Farbe. Auf einer Doppelseite schrieben die Berichterstatter in allen Facetten vom "incroyable Raquil", so die Titelzeile in dicken schwarzen Lettern, dem "unglaublichen Raquil", der auch dem Massenblatt aus dem Pariser Vorort Issy-les-Moulineaux mächtig Kohle gebracht hat dank gesteigerter Auflagezahlen.
Top-Quoten im Fernsehen
Alle, wirklich alle, profitieren von dieser WM. Auch die beiden staatlichen Fernsehsender "France 2" und "France 3", die wechselweise dieses Mega-Event übetragen. Aufs richtige Pferd haben die Programm-Macher gesetzt. Mit hervorragenden Einschaltquoten zur "prime time", der besten Sendezeit von 20.50 bis 22.20 Uhr, haben sie am Dienstagabend sogar die private Konkurrenz von "TF1" überflügelt, die eine eigens fürs TV produzierte Neufassung des Kino-Hits– "Liaisons dangereuses" - "Gefährliche Liebschaften" ins Rennen schickte. Catherine Deneuve und Nastassja Kinski, die Tochter von Klaus Kinski, dem einstigen Bösewicht vom Dienst, glänzten in den Hauptrollen und spielten doch nur die zweite Geige. Denn mehr als fünf Millionen Menschen, nannte "L'Equipe" die erstaunliche Zahl, saßen fasziniert vor der Flimmerkiste und drückten Marc Raquil, Leslie Djohne und den andern Mitgliedern der französischen Nationalmannschaft beim Wettstreit der weltbesten Leichtathleten fest, ganz fest die Daumen.
Der Nationalstolz hat die Franzosen voll gepackt. Beu, blanc, rouge ist Trumpf. Blau, weiß, rot sind die Modefarben. Frédéri
c Chevit rieb sich schon vergnügt die Hände. "Wir haben ausgezeichnete Einschaltquoten", sagte der Sportchef von "France 2" und "France 3" und strahlte, "für uns ist diese Veranstaltung ein voller Erfolg." Er gab aber auch ehrlich zu, dass man anfangs nicht allzu optimistisch gewesen sei. "Ja, wir hatten sogar ein wenig Angst." Angst, dass sie baden gehen könnten mit ihrem Konzept. "Aber alle Sorgen, die wir hatten, waren unbegründet", freute sich ein hochzufriedener Chevit, "das Interesse ist enorm." Mit der Leichtathletik, der "Königin" unter den Sportarten, hat er mittlerweile erkannt, lässt sich prima Quote machen.
Promis als Journalisten
An diesem Erfolg sind auch einiges "Promis" beteiligt. Marie-José Pérec beispielsweise, die dreimalige Olympiasiegerin, die als Diva verschrieen ist und die Öffentlichkeit wochenlang mit einer "never endling story", ob sie nun starten wird oder nicht, hingehalten hat. Pérec, ein "enfant terrible", was man wörtlich nehmen darf, "ein schreckliches Kind", gab schließlich ihren WM-Verzicht bekannt, da der verflixte Ischiasnerv sie permanent piesackte. Statt auf der Bahn ihre Runden zu drehen, verdingte sie sich anfangs als Kolumnenschreiberin bei "L'Equipe", bis die scheue Dame, die stets und ständig die Flucht ergreift, wenn sie nur einen Journalisten kommen sieht, urplötzlich auf dem Bildschirm auftauchte, den 200-Meter-Endlauf kommentierte und hinterher Muriel Hurtis, ihre Nachfolgerin, die als Viertplatzierte leider leer ausgegangen ist, zu interviewen versuchte.
Sergei Bubka, noch ein klangvoller Name, wurde von den cleveren Fernsehleuten ebenfalls ins Studio gelotst, um den hochklassigen Stabhochsprung-Wettbewerb, den überraschenderweise der Italiener Guiseppe Gibilisco gewonnen hatte, mit seinem fachkundigen Wissen zu begleiten. Bubka, der "Sputnik" aus der Ukraine, bewältigte diese journalistische Hürde genauso souverän wie er früher die Weltrekord-Höhe scheibchenweise auf 6,14 Meter hoch getrieben hat.
Besucherzahlen voll im grünen Bereich
Das Zusammenspiel funktioniert. Bernard Amsalem, der Verbandspräsident, freut sich über das Medieninteresse. "Der Run auf die Karten", frohlockte er, "hat unsere Erwartungen deutlich übertroffen." Die Leichtathletik in Frankreich boomt, bemerkte er, sie sei nie so populär gewesen wie in diesem Sommer. Colette Besson, 1968 in der Höhenluft von Mexico City umjubelte Olympiasiegerin über 400 Meter und inzwischen eifrige Hobbyläuferin, stimmte ihm vorbehaltlos zu. Ihre Impressionen brachte sie kurz und knapp auf den Punkt: "Es macht einfach Spaß, diese tolle Atmosphäre live zu erleben."
Die WM-Organisatoren, die in einem Gebäude der Pariser Nahverkehrszentrale am "Quai de la Rapée" auf drei Etagen untergebracht sind, addieren bereits fleißig die Zuschauerzahlen. 2001 in Edmonton waren 402.000 live dabei und zwei Jahre vorher in Sevilla sogar 498.000. Und wie viele sind es im "Stade de France", der Opera des Sports? "Es wäre ein Traum", hatte OK-Chef Gabriel Essar im Vorfeld kund getan, "wenn wir 480.000 Tickets verkaufen würden." Da die beiden letzten Tage mit jeweils an die 70.000 Menschen fast ausverkauft sind, darf der gute Mann, der schon fünf Jahre zuvor bei der Fußball-WM im Einsatz war, den Champagner kalt stellen.
Ein Prosit auf die Leichtathletik!