Warum läuft die Weltklasse so schnell?
Umfang oder Intensität? Periodisierung oder Akzentuierung? Marathontraining das ganze Jahr über oder lediglich eine kompakte Vorbereitung von acht bis vierzehn Wochen? Die Rezepte der Top-Athleten, um auf der Langstrecke zum Erfolg zu kommen, sind dabei so verschieden wie nie zuvor, dennoch gibt es natürlich geographische Tendenzen in den Trainingspraktiken. Interessant dabei ist auch, dass nur wenige auf alternative Trainingsformen setzen.
Die Frühjahrslaufsaison ist in vollem Gange, landauf landab rennen Tausende bei Wettkämpfen durch Stadt, Feld, Wald und Wiesen. Nicht wenige entwickeln dabei einen gesunden Ehrgeiz und träumen insgeheim davon, auch mal als Sieger die Ziellinie zu überqueren.Viele fragen sich dabei, was macht die Topstars so schnell? Nur von Gott gegebenem Talent ist noch keiner zum Olympiasieg oder Weltrekord gelaufen. Ein kleiner, nicht wissenschaftlicher Überblick:
Trainingsmethoden im Wandel der Zeit
Dabei hat es über die verschiedenen Jahrzehnte immer Weiterentwicklungen in der Trainingsphilosophie gegeben. In der Anfangszeit des Langstreckenlaufs zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten lockere Dauerläufe und ein generell hoher Kilometerumfang die entscheidenden Trainingsziele dar.
Bekanntester Athlet aus dieser Zeit war der legendäre Finne Paavo Nurmi, der mit Zeiten im Bereich von dreißig Minuten über 10.000 Meter und seinen insgesamt 22 Weltrekorden Mitte der Zwanziger Jahre für Aufsehen sorgte. Die erste richtige Revolution in der Trainingsmethodik stellte schließlich das Konzept von Emil Zatopek dar. „Die tschechische Lokomotive“, wie er von seinen Gegnern respektvoll genannt wurde, sorgte mit seiner extensiven Intervall-Methode für Furore.
Dabei standen in seinem Trainingsprogramm beinahe täglich Wiederholungsläufe von beispielsweise 60x200 Meter oder 40x400 Meter auf dem Programm. Dass vor allem willensschuldende Einheiten erfolgreich waren, bewiesen seine Weltrekorde über 5.000 Meter (13:57,3 min) und 10.000 Meter (29:28,2 min) Mitte des Jahrhunderts.
Die Philosophie des Arthur Lydiard
Die ersten Trainingsphilosophien ähnlich denen, wie man sie heute kennt, entwickelte schließlich der Neuseeländer Arthur Lydiard zwischen 1953 und 1972. Neben hohen Wochenumfängen von über 160 Kilometern pro Woche auch für Mittelstreckenläufer, setzte er ebenso zunehmend auf eine stärkere Variation der Trainingsinhalte. Neben lockeren Dauerläufen, Intervalltrainings und submaximalen Tempodauerläufen, revolutionierte er die Trainingswissenschaft mit der Integration von Hügel- und Sprungläufen.
Nach einer weiteren Umfangserhöhung in den Achtziger Jahren mit durchschnittlichen Kilometerleistungen von 220 bis 260 Kilometern pro Woche, die wohlgemerkt nicht nur Marathonläufern, sondern auch 5.000 und 10.000 Meter-Athleten absolvierten, gab es speziell in den vergangenen 15 Jahren einige weitere interessante Entwicklungen.
Dabei steht eine leichte Rücknahme der Trainingsumfänge im Vordergrund, stattdessen gewinnt die Laufgeschwindigkeit im Training immer mehr an Bedeutung. Die Komplexität der Belastung ist aber ähnlich wie noch einige Jahre zuvor. Außerdem wird das Training der Weltklasse individueller. Es gibt hierbei zumeist mehrere Rezepte, um zum gleichen Erfolg zu gelangen.
Geographische Unterschiede
Nicht selten spielen in der Trainingsgestaltung der weltbesten Langstreckenläufer soziale, kulturelle und historische Faktoren eine wichtige Rolle. So wird beispielsweise in Asien immer noch das Konzept des extrem hohen Trainingsumfangs propagiert. Gegenwärtig sind vor allem aus Japan und China Kilometerleistungen von mehr als 300 Kilometer pro Woche bei Marathonläufern und mehr als 200 Kilometern bei 5.000 Meter-Läufern das Mittel der Wahl.
Dies hat in erster Linie mit der persönlichen Grundeinstellung der Menschen dort zu tun, die generell als harte Arbeiter bekannt sind. So sind tägliche Arbeitszeiten von mehr als zwölf Stunden etwas ganz Selbstverständliches. Dass diese voluminösen Trainingskonzepte natürlich zu Lasten der Geschwindigkeit gehen, ist verständlich, denn die Energie, die man zur Verfügung hat, kann man während einer umfangreichen Trainingswoche nur begrenzt einsetzen.
Dennoch gibt der Erfolg speziell der japanischen Marathonläuferinnen ihnen Recht, die mit Naoko Takahashi, Yoko Shibui und Mizuki Noguchi reihenweise Top-Athletinnen hervorgebracht haben, die mit Olympiasiegen und Weltrekorden von sich reden machen konnten.
Laufgeschwindigkeiten als Ziel
Die gegenteilige Methodik wird unterdessen auf der anderen Seite des Pazifiks erfolgreich praktiziert. In den USA glänzt man nicht überwiegend mit Kilometerleistungen, sondern legt vermehrt Wert auf die intensiven Anteile und hohe Laufgeschwindigkeiten. Hier steht das möglichst häufige Trainieren der Zielgeschwindigkeit im Vordergrund.
In Afrika hingegen wird eine Mischung aus beiden Ansätzen angewandt. Dort gilt es in erster Linie mit möglichst harten Trainingsbelastungen, sowohl in Umfang als auch Intensität, hohe Anforderungen an Willenskraft und Belastungsfähigkeit der Athleten zu stellen. Solche intensiven Reize sind aber nur in einer großen, leistungsstarken Trainingsgruppe zu realisieren.
Talente fluktuieren
Diese Kombination ist allerdings mit einer hohen Fluktuation der Talente verbunden. In diesem Trainingssystem kommen nur die Härtesten zu Ruhm und Ehre. Von den vielen Läufern, die dabei auf Grund von Verletzungen im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleiben, erfährt man in Europa nichts.
Die Weltklasse-Athleten setzen dabei, mal abgesehen von Stabilisationstraining für Bauch- und Rumpfmuskulatur, kaum auf alternative und ergänzende Trainingsformen, um ihre Laufleistung zu unterstützen. Lediglich bei ernsteren Verletzungen oder in den Pausen zwischen den Saisonzeiten geht es mal aufs Fahrrad oder ins Schwimmbecken.
Zunehmende Individualisierung
Am Beispiel des US-Shootingstars Ryan Hall, der im vergangenen Jahr beim britischen London-Marathon als Fünfter 2:06:16 Stunden lief, wird auch die zunehmende Individualität deutlich. Der 26-Jährige bezeichnet dabei vor allem seine so genannten Marathonsimulationen als Geheimrezept seines Erfolges.
In diesem speziellen Fall absolviert er zunächst etwa zehn Meilen in lockerem Dauerlauftempo, um anschließend ohne Pause noch einmal zehn Meilen im angestrebten Marathon-Renntempo zu absolvieren. „Es fühlt sich einfach gut an, nach einer so langen und intensiven Belastung noch etwas zusetzen zu können. Das gibt mir ein positives Gefühl für den Marathon“, schreibt Ryan Hall in seinem Weblog.
Außerdem setzte er noch auf lange Tempodauerläufe von bis zu 19 Kilometern und kurze Sprints am Berg, um seine Schnelligkeit zu erhalten. Bei seinen Intervalltrainings, die er nicht auf der Bahn, sondern am liebsten in Parks absolviert, hingegen geht er nicht an seine Grenzen, sondern bevorzugt Mischprogramme, wie etwa zwei Meilen im Halbmarathontempo, eine Meile im 10-Kilometer-Tempo und eine halbe Meile im 5-Kilometer-Wettkampftempo.
Mittelstreckentraining im Sommer
Insgesamt führt der Stanford-Absolvent nur acht Wochen spezielles Marathontraining durch, um sich auf die klassischen 42,195 Kilometer vorzubereiten. Den Rest des Jahres feilt er gemeinsam mit seinem Trainer Terence Mahoon, der auch die US-Rekordhalterin im Marathon, Deena Kastor (2:19:26 h), betreut, an seiner Grundschnelligkeit und legt dafür im Sommer sogar mehrere Wochen mit speziellem Mittelstreckentraining ein.
Als weiteres Individual-Beispiel, mit unterschiedlichen Mitteln zum Erfolg zu kommen, kann man den Schweizer Rekordhalter Viktor Röthlin heranführen. Der WM-Dritte im Marathon mit einer persönlichen Bestleistung von 2:07:23 Stunden schaut dabei aber immer wieder über den eigenen Tellerrand hinaus und geht jedes Jahr für mehrere Wochen zum Höhentraining nach Kenia.
Im Speziellen absolviert er eine 14-wöchige Marathonvorbereitung und legt dabei besonderen Wert auf seine langen Läufe bis zu 38 Kilometer, die in einem hohen Grundtempo unter 3:30 Minuten pro Kilometer gelaufen werden. „Die Säulen sind klar die langen Läufe. Ich habe einen Grundaufbau, bei dem ich 30, 35, 38 Kilometer jeweils auf Zeit laufe und dann 40 Kilometer auf einem Niveau, das nur die Kapillarisierung angeregt, also langsam - vielleicht 4:00 Minuten pro Kilometer“, erklärt der Eidgenosse.
Haile Gebrselassie beeindruckte
Diese Trainingsmethoden, dass der lange Lauf näher am Marathon-Zieltempo gelaufen wird, geht vor allem auf den italienischen Erfolgstrainer Dr. Gabriele Rosa zurück, der in seinen Laufgruppen in Kenia unter anderem auch Martin Lel (mehrfacher Sieger in London und New York/USA) und Robert K. Cheruiyot (beide Kenia) betreut.
Haile Gebrselassie indessen hat vor allem in seinen Zeiten, als er zahlreiche Weltrekorde auf der Bahn aufstellte, in erster Linie mit harten Intervalltrainingsprogrammen von sich reden gemacht. Der Langstreckler wagte es gemeinsam mit seinem Trainer Dr. Woldemeskel Kostre, die Geschwindigkeiten in bislang nicht vorstellbare Regionen zu steigern.
So absolvierte der Äthiopier zu seinen besten Zeiten auf der Bahn um die Jahrtausendwende Trainingsprogramme wie zum Beispiel 18x400 Meter in 54 Sekunden. Oder 5x2.000 Meter in 5:20 Minuten. Nach ähnlichem Muster geht auch sein Nachfolger auf der 5.000 und 10.000 Meter-Distanz, Kenenisa Bekele, vor.
Wenig Rennen, viel Vorbereitung
Während bei allen oben genannten Beispielen die Individualität eine große Rolle spielt, haben alle eines gemeinsam. Allesamt absolvieren im Jahresverlauf relativ wenige Rennen und bereiten sich ganz gezielt auf die Saisonhöhepunkte vor.
Das Gegenteil stellte hingegen einst der mehrmalige Weltrekordler über 3.000 und 5.000 Meter, Daniel Komen, dar. Neben einem Talent, das seinesgleichen suchte, verblüffte der Kenianer vor allem mit einer ungeheuren Wettkampfdichte. „1996 machte ich 26 Rennen, angefangen mit Cross und dann auf der Bahn. Und 1997 war nicht anders. Ich denke, das ist der Grund, warum ich nie mehr richtig auf Touren kam. Meine Reserven waren aufgebraucht“, beschreibt der Weltmeister von 1997 über 5.000 Meter seine Karriereplanung, bei der er wohl etwas über das Ziel hinaus schoss und danach nie wieder richtig in Tritt kam.
Ohne Fleiß kein Preis
Zusammenfassend kann man sagen, dass es auch in Zukunft immer mehrere Wege, um zum Erfolg zu kommen, geben wird. Es wird nie das ultimative Trainingssystem geben, das man einfach übernehmen kann, um in die Weltklasse vorzustoßen.
Entscheidend sind dabei vor allem die individuellen Voraussetzungen der Athleten. Während der eine von Haus aus eine gute Grundschnelligkeit mit auf die Langstrecke nimmt, ist bei dem nächsten die Ausdauer die Stärke. Um beide Fähigkeiten entscheidend ausprägen zu können, ist über die Jahre viel Geduld und Fingerspitzengefühl von Trainern und Athleten gefragt. Der Grundgedanke ist aber immer derselbe, am Ende bleibt es für jeden harte Arbeit.