Wenn Mehrkämpfer anfangen zu jagen…
Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) will mit einer revolutionären Regel-Änderung den Mehrkampf spannender und attraktiver machen. Beim IAAF-Kongress im August in Osaka (Japan) soll der Vorschlag eingebracht werden, dass die Mehrkämpfer künftig im abschließenden Rennen in den aus der Zwischenwertung nach Punkten resultierenden Zeitabständen starten.
Wer als Erster ins Ziel kommt, soll auch der Sieger sein (Foto: Chai)
"Der Erste, der im Ziel ist, ist dann auch der Gewinner", stellte DLV-Präsident Dr. Clemens Prokop am Rande der Deutschen Hallen-Meisterschaften in Leipzig die Vision mit seinem alles entscheidenden Vorteil vor. Bislang ist das meistens nicht so. Erst nach Sekunden bangen Wartens spuckt der Computer nach der Mittelstreckendistanz, die per Massenstart angegangen wird, die Ergebnisliste aus. Die Gundersen-Methode, die sich bereits im Biathlon und in der Nordischen Kombination etabliert hat, soll nun auch der Leichtathletik in Sachen Attraktivität auf die Sprünge helfen. Der vor dem Finale punktbeste Athlet wird dann demnach als Erster starten und kann, wenn er auch als Erster den Lauf beendet, sofort sicher sein, den gesamten Mehrkampf für sich entschieden zu haben.
Technische Voraussetzung gegeben
Die technische Umsetzung scheint vom DLV durchdacht: "Über einen Chip kann die Zeit der einzelnen Läufer genau gemessen werden. Wir hoffen, dass die IAAF dem Antrag folgt", sieht Dr. Clemens Prokop alle Voraussetzungen erfüllt.
Für ihn ist diese "Reform ein weiteres Zeichen für die Leichtathletik", die Sportart und ihre Disziplinen publikumswirksamer zu machen. Der Wettbewerb wird so transparenter und spannender und hat zudem im Wintersport ein gut funktionierendes Vorbild gefunden.
Claudia Tonn sieht Vorteil
Siebenkämpferin Claudia Tonn (LC Paderborn), für die der abschließende 800-Meter-Lauf eine ihrer stärkeren Disziplinen ist, käme die Gundersen-Methode entgegen: "So hätte ich dann auch Leute vor mir, an die ich dann langsam heran laufen könnte. Meistens muss ich immer mein Heil in der Flucht suchen und am Ende hoffen, dass ich noch den ein oder anderen Platz gut gemacht habe."
Für sie wäre künftig für ein packendes Jagdrennen angerichtet und genau solche Dramaturgien und Szenarien, die das Zeug haben, in die Leichtathletik-Geschichte einzugehen, sind das, was der DLV anstrebt.
Taktik entscheidet
Für die Laufgestaltung könnte letztendlich auch das Taktieren eine größere Rolle spielen als bisher. Frank Busemann, 1996 Olympia-Zweiter im Zehnkampf, holte über 1.500 Meter immer das Letzte aus sich heraus: "Ich habe da nie groß taktiert, bin immer so schnell gelaufen, wie ich konnte, um natürlich noch so viele Punkte wie möglich zu holen."
Mit Claudia Tonn ist er sich einig, dass sowohl stärkere, als auch schwächere Läufer von der Regelung profitieren könnten. Solange die Qualität der Wettkämpfe nicht beeinträchtigt wird, und die Zahl derjenigen, die mit dem Jagdrennen tatsächlich zu schnelleren Zeiten motiviert werden, die der Kritiker übersteigt, ist der Vorschlag zeitgemäß.
Der Gejagte in Schwierigkeiten?
Zunächst ist aber auch noch Überzeugungsarbeit zu leisten. So sieht der tschechische Zehnkampf-Olympiasieger Roman Sebrle mit der neuen Methode etwaige Weltrekordversuche untergraben. "Damit wird die Jagd auf eine bestmögliche Endpunktzahl verhindert. Wenn jemand zum Beispiel den Weltrekord angreifen will, muss er sein eigenes Rennen laufen und muss vielleicht nach der ersten Runde an Leuten vorbei, die gerade erst starten."
Trotzdem lässt sich dieser Einwurf des Vorzeigeathleten nicht pauschalisieren. Ist der Führende unter Umständen auf sich alleine gestellt, sind die Jäger gleichermaßen in einer eher leistungsfördernden Rolle.
Frank Busemann bekennt sich dennoch als Traditionalist. "Man fühlt sich etwas hin-
und hergerissen. Auf der einen Seite ist es eine gute Sache für die Zuschauer, andererseits ist es für die Athleten wahrscheinlich nicht immer leistungsfördernd."
Große Abstände
DLV-Disziplintrainer Klaus Baarck, zuständig für den Siebenkampf, sieht außerdem eine Gefahr, dass mit dieser Maßnahme das Gegenteil vom eigentlich Gewollten erreicht werden könnte: "Die Abstände sind am Ende so groß, dass der Lauf total uninteressant wird."
Schon vor Jahren hatten sich die Verantwortlichen schon einmal mit diesem Thema auseinandergesetzt und durchgerechnet, wie es in der Praxis realisierbar wäre: "Es gibt bei Mehrkämpfen Unterschiede von 300 Punkten und mehr vor der letzten Disziplin. Da kann es passieren, dass gerade bei den Frauen, die nur zwei Stadionrunden laufen, die Erste schon im Ziel ist und die Letzte noch auf ihren Start wartet." Claus Marek, Teammanager des DLV für den Zehnkampf, sieht ähnliche Schwierigkeiten.
Optimale Umsetzung gefragt
Deshalb muss ein Gundersen-System dahingehend optimiert sein, wie ein Jagdrennen am besten umzusetzen ist. Wird etwa in Gruppen gestartet, die eine Leistungsdichte mitbringen? Wird das System erst ab einer bestimmten Mindestanzahl von Teilnehmern eingesetzt? Oder nur bei großen, fernsehrelevanten Meisterschaften und Meetings?
In der kommenden Saison bleibt sowieso noch alles beim Alten. Die Mehrkämpfer werden in Osaka noch nach alten Regeln ihren König und ihre Königin finden. Der Respekt der treuen Leichtathletik-Anhänger ist ihnen ohnehin gewiss, auch wenn zunächst noch die Medaillen mit dem Rechenschieber verteilt werden und deren Gewinner nicht - wie bei einem Jagdrennen - mit dem menschlichen Auge sofort ersichtlich sind.