Christine Arron, die Sprint-Königin aus Frankreich
Die Zeitungen überbieten sich in diesen Tagen mit immer neuen Geschichten. "Reine Christine", schrieb kürzlich das Boulevard-Blatt "France Soir", "Königin Christin." Noch fehlt ihr die Krone. Doch die sportbegeisterten Franzosen sind guter Hoffnung, dass Christine Arron, die Europarekordlerin über 100 Meter (10,73 sec in Budapest 1998), den Thron der weltbesten Sprinterin besteigen wird. Mit dem Heimvorteil im Rücken, mit der lautstarken Unterstützung von Abertausenden im "Stade de France" soll sie die heiß ersehnte Goldmedaille erobern. Groß ist der Druck. Riesengroß. Denn Christine Arron trägt die Hoffnungen der "Grande Nation".
Christine Arron strebt Gold heute im WM-Finale eine Medaille an - am besten Gold.
Die Vollblutsprinterin aus dem Pariser Vorort Noisy-le-Grand, die schon vor der offiziellen Eröffnungsfeier in den 100-Meter-Vorläufen ran musste und sich in 11,15 Sekunden für die Zwischenläufe qualifizierte, hat in diesem Sommer die Kurve gekriegt. Sie ist wieder da, nachdem 2002 sportlich gesehen ein verlorenes Jahr war. Doch privat erlebte sie das höchste Glück auf Erden. Christine Arron, liiert mit dem Hürdensprinter Dan Philibert, hat Nachwuchs bekommen. Ethan heißt ihr Sohnemann, der am 28. Juni 2002 geboren wurde. Darum fehlte die junge Mutter auch bei der EM in München, wo die Griechin Ekaterini Thanou über 100 Meter Gold gewann.Guy Ontanon ihr neuer Trainer
Seit dem Winter feilte die schnelle Dame mit dem flotten Mundwerk an ihrer Wiederkehr unter der Leitung von Guy Ontanon, der auch Muriel Hurtis, die amtierende Europameisterin über 200 Meter in der Halle und im Freien, trainiert. "Wir haben uns in einem Restaurant ganz in der Nähe von Schloss Chantilly getroffen", erzählte Ontanon, "drei Stunden dauerte das Gespräch." Danach waren sich beide einig über ihre künftige Zusammenarbeit. "Ich habe nicht eine Sekunde gezögert", sagte er weiter, "man hatte mich vorher gewarnt, dass sie sich wie eine Diva aufführen würde." Davon könne freilich nicht die Rede sein. "Christine benimmt sich völlig normal." Sie habe sich problemlos in seine Trainingsgruppe eingefügt.
Christine Arron, die bei der Wahl zum Leichtathleten des Jahres 2002 nur auf Position 28 gelandet war, feierte ihre größten Erfolge bei der EM 1998, als sie im Budapester Nep-Stadion mit zwei Goldmedaillen dekoriert wurde. Schnelle 10,73 Sekunden war sie im 100-Meter-Finale bei einem Schiebewind von gerade noch erlaubten 2,0 Meter pro Sekunde unterwegs und schnappte der zweitplatzierten Russin Irina Privalova ihren vier Jahre alten Europarekord (10,77 sec) vor der Nase weg. Besser waren bis dato lediglich die Olympiasiegerin von Seoul 1988, Florence Griffith-Joyner (10,49 sec), die inzwischen verstorben ist, und Marion Jones (10,71 sec), die nach der Geburt von Filuis "Timothy jr." in Paris als Eurosport-Mitarbeiterin auf der WM-Pressetribüne weilt. Drei Tage später im Budapester Staffelrennen über 4 x 100 Meter übernahm sie den Stab an dritter Position und führte ihr Quartett mit einem Atem beraubenden Finish noch zum Sieg. "Super", freute sich Christine Arron und strahlte damals mit ihren Kolleginnen um die Wette, "ich bin so stark wie nie zuvor."
1992 bei der Junioren-WM entdeckt
Die ehrgeizige Sprinterin ist in Abymes auf der Karibikinsel Guadeloupe geboren. Ihr Vater war Weitspringer, ihr Opa und ihr Bruder versuchten ihr Glück im Sprint. Aber die Erfolgreichste einer sportbegeisterten Familie ist die krausköpfige Christine, die immer wieder mit neuen Haarfarben auch optische Akzente auf der Tartanbahn setzt.
Die Verbandsoberen aus Frankreich hatten sie 1992 bei der Junioren-WM in Seoul entdeckt. Dort war Christine Arron im Halbfinale ausgeschieden. Anschließend flog sie nach Europa, doch in den Pyrenäen, wo sie in einer Sportschule tagtäglich trainieren musste, ging ihr die Spaß am Sport verloren. Sie brauchte Luftveränderung. Und fand sie bei Jacques Piasenta, dem Erfolgscoach, der sich kurz zuvor von Marie-José Pérec getrennt hatte. Mit ihm führte der Weg steil bergauf bis hin zum EM-Double in Budapest. 1999 bei der WM in der Hitze von Sevilla war ihr eigentlich die Rolle als Herausforderin von Marion Jones zugedacht. Daraus wurde allerdings nichts. Christine Arron rannte im Endlauf hinterher, musste sich mit dem sechsten Platz trotz 10,97 Sekunden begnügen und erhob schwere Doping-Vorwürfe gegen ihre Konkurrentinnen: "Im Sport geht es nur noch um Geschäft, und die Offiziellen tun nicht das, was sie tun sollten, um für einen sauberen Sport zu sorgen. Wenn sie es tun würden, wäre der Sport sauber." Um das Problem in den Griff zu kriegen, seien Blutkontrollen notwendig. "Wir brauchen das große Aufräumen: Bluttests überall und zu jeder Zeit! Wenn das nicht kommt, kann man das ganze System vergessen."
In Sydney kam das Aus im Halbfinale
Seither trat die streitlustige Französin kaum mehr in Erscheinung. In Sydney, Schauplatz der Olympischen Spiele, schied sie im Halbfinale als Vorletzte aus, blieb mit der Staffel als Vierte ebenfalls ohne Medaille und fehlte nach einigen Verletzungsproblemen bei der WM in Edmonton und wegen der Geburt von Ethan auch bei der EM in München.
Nach einem kurzen, wenig berauschenden Gastspiel beim US-Coach John Smith, der in Los Angeles unter anderem auch Maurice Greene betreut, arbeitet sie nunmehr mit Guy Ontanon zusammen. Zu seinen Schützlingen zählen neben Muriel Hurtis auch Sylviane Félix, die mit dem französischen Staffelquartett über 4x100 Meter Gold in München gewonnen hat.
11,05 Sekunden schon in diesem Jahr
Das Comeback ist ihr vollauf gelungen. Christine Arron hat eindrucksvoll bewiesen, dass sie in neuer Umgebung zu alter Stärke zurückgefunden hat. An sechs internationalen Meetings hat sie teilgenommen. Zhanna Block, die Weltmeisterin von Edmonton, verlor das Duell gegen Arron im griechischen Trikala. Dort triumphierte Christine Arron in 11,09 Sekunden. Noch schneller war sie zuvor in Villeneuve-d'Ascq (11,08 sec) und in Florenz (11,07 sec), wo ihr der Sieg beide Male nicht zu nehmen war. Ihre beste Zeit lief sie in Zürich (11,05 sec), war dort allerdings nur Dritte hinter der US-Amerikanerin Chryste Gaines, die für das WM-Einzelrennen nicht qualifiziert ist, und Chandra Sturrup von den Bahamas. "Christine" kann Weltmeisterin werden", betont Guy Ontanon voller Zuversicht, "das wird ein Dreikampf zwischen ihr, Chandra Sturrup und Kelli White, die ich am meisten fürchte." Sie selber hält sich bedeckt, hat aber bereits kund getan, "dass ich noch die Zeiten gelaufen bin, die ich eigentlich drauf habe".
Christine Arron will's wissen. Sie hat ihren Start, früher die absolute Schwachstelle, enorm verbessert. Sie steckt voller Tatendrang. Und voller Pläne. Sie will im "Stade de France" die Schnellste sein, um dann, genau zwanzig Tage später, mit der Goldmedaille auf ihren 30. Geburtstag anzustoßen. "Prosit, Reine Christine", wird dann die Schlagzeile heißen!